Frage: Im Koalitionsvertrag bekennt sich die neue Bundesregierung zu einem umfassenden Aufbruch, um die technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft zu befördern. Angestrebt sind Bürokratieabbau, Agilität in der Verwaltung zur Erneuerung des Landes und ein Regelwerk, das den Weg frei macht für Innovationen. Aber ist das jetzige Innovationssystem nicht geradezu systemisch darauf ausgerichtet Innovationen zu reglementieren, zu erschweren oder gar zu behindern?
Dr. Bovenschulte: Zuallerst: Wenn ich das Wort „Bürokratieabbau“ höre, gehe ich vorsichtig in Deckung. Die zurückliegenden Ankündigungen und Umsetzungen in verschiedenen Politikfeldern haben nach meiner Wahrnehmung nicht immer die gewünschten Effekte von tatsächlich einfacheren und schnelleren Prozessen zur Folge gehabt, sondern schlicht eine „andere“ Bürokratie. Das Ganze hat ja auch durchaus Sinn: Bürokratie schafft Sicherheit und Fairness in Prozessen und Entscheidungen. Auf diese Weise wird regelbasiertes Handeln erst verlässlich möglich – daher also die berühmten Vorschriften. Es kommt aber sehr darauf an, mit welcher Zielsetzung Vorschriften erlassen und Regeln eingeführt werden. Während beim bürokratischen Prozess der Wohnungsummeldung natürlich so wenig Unsicherheit wie möglich bestehen soll, ist der Umgang mit Unsicherheit im Falle von Innovationen geradezu handlungsleitend. Wenn alles schon vorher klar wäre, wäre es ja keine Innovation.
Schauen wir nun auf den Zustand der Innovation in Deutschland. Ganz so furchtbar, wie es mit groben Pinselstrichen an die Wand gemalt wird, ist es ja zum Glück nicht. Deutschland ist immer noch unter den Top 3 der exportstärksten Nationen – so viel also zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Dass die beiden leistungsstarken Volkswirtschaften China mit 1,4 Mrd. Menschen und auch die USA mit 330 Mio. Menschen mehr exportieren können als Deutschland mit 83 Mio. Menschen, überrascht mich nicht wirklich. Und mit einem inländischen Wertschöpfungsanteil an den Exportgütern von rund 75 % ist Deutschland weit entfernt von einer hier und da unterstellten Basarökonomie.
Zeitenwende im Innovationsgeschehen?
Nichtsdestotrotz verstehe ich natürlich die Befürchtung, dass die nächsten Züge Richtung Zukunft eventuell ohne einen nennenswerten ökonomischen Anteil Deutschlands abfahren. Ich verstehe auch, dass der Umstand, in der Forschung zwar Spitze zu sein, in der Verwertung der wissenschaftlichen Erkenntnisse jedoch nicht, mehr als nur Stirnrunzeln hervorruft. Und natürlich müssen wir uns im Sinne einer kritischen Reflexion die Frage stellen, ob wir eine Zeitenwende im Innovationsgeschehen und folglich auch in der Innovationsförderung erleben, oder ob es sich um Anpassungsprozesse handelt. Es ist wie in der Innovation selbst: Haben wir es mit einer Pfaderneuerung zu tun oder mit einer Pfadkreation?
Führen wir nun Innovation und Bürokratie (als Kurzform für Fördermechanismen und deren Regelwerke) zusammen, ergibt sich aus meiner Sicht daher die Frage, ob sich in den weltweiten Innovationsprozessen und -systemen etwas grundlegend geändert hat, sodass auch die Fördersysteme radikal anders funktionieren müssen. Haben Digitalisierung, Startup-Ökosysteme und Open Innovation, Partizipation und Missionsorientierung, soziale Innovationen und Impact-Orientierung die Spielregeln grundsätzlich neu geschrieben oder eher neue Felder aufgemacht. Wir brauchen diese Diskussion um eine mögliche „Innovationswende“ unbedingt und sie muss offen geführt werden, denn in Deutschland neigen wir bisweilen dazu, strukturelle Probleme einfach mit Geld zuwerfen zu wollen. Die Begrenztheit dessen hat sich in der Pandemie in einem ganz anderen Bereich gezeigt: Auch mit mehr Geld bekommen wir nicht mehr Intensivbetten in Betrieb, weil schlichtweg die Fachkräfte fehlen.
Frage: Welche negativen Auswirkungen haben die Struktur und Prozesse des jetzigen Systems der Innovationsförderung?
Dr. Bovenschulte: Vermutlich ist das ganze System zu stark davon geprägt, dass Risiken in der Förderpraxis minimiert werden sollen. Das sieht man auch an den kleinteiligen Planungsvorgaben, bei denen die Projekte am Anfang schon wissen müssen, was sie in drei Jahren machen. Das hat mit der immanenten Unsicherheit von Innovation natürlich nur begrenzt zu tun. Und es führt dazu, dass im Grunde genommen jedes Projekt ein Erfolg werden muss. Niemand möchte gerne scheitern und Misserfolge einfahren – auch nicht aufseiten der Innovationsförderung. Tatsächlich passiert es in der Realität nicht selten, dass bei erfolglosen Projekten sofort angemahnt wird, dass es sich doch um Steuergelder handele etc. Das ist alles richtig und natürlich sollen vermeidbare Risiken in einer Kosten-Nutzen-Abwägung auch unbedingt vermieden werden. Aber wenn sich eine Gesellschaft oder ein Staat dazu entschlossen hat, Steuergelder für FuE+I auszugeben, und diese Förderung nun einmal risikobehaftet ist, dann muss er auch die Logik der Prozesse bis zum Ende anerkennen. Im Zweifelsfall heißt das eben, ein größeres Risiko einzugehen, wenn es eine passable Aussicht auf Erfolg bietet. Eine solche Chancenorientierung wird sich im Detail nur schwer in Vorschriften fassen lassen, als grundsätzliche Ausrichtung aber sehr wohl. Nach meiner Meinung lassen sich viele der sonstigen Defizite der Innovationsförderung aus diesem Phänomen ableiten.
Frage: Die unbefriedigende Situation ist lange bekannt und hat bei vielen Experten zu der Einschätzung geführt, neben der klassischen staatlichen Innovationsförderung müsse es völlig neuartige und freie Innovationsagenturen geben. Im Koalitionsvertrag wird die Rolle von SPRIN-D nochmals gewürdigt und eine Deutsche Agentur für Transformation und Innovation DATI in Aussicht gestellt. Als Projektträger VDI/VDE-IT sind Sie skeptisch gegenüber solchen Innovationsagenturen. Warum?
Dr. Bovenschulte: Um es vorweg zu sagen: Aus den eben genannten Gründen müssen wir uns auch als Projektträger immer wieder fragen, ob das, was wir machen, auch richtig und zielführend ist. Und wir versuchen, gemeinsam mit unseren Auftraggebern – den Ministerien – neue Wege in der Förderung zu beschreiten. Wer das nicht tut, dürfte die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Da die SPRIN-D bereits Realität ist und die DATI sicherlich auch kommen wird, ist doch die Frage, ob es am besten gelingen kann, die strukturellen Probleme mit einer mit Sonderregeln ausgestatteten Agentur zu lösen, oder mit Regelanpassungen und -erleichterungen für alle Akteure im Innovationssystem bzw. in der Innovationsförderung. Hier stellen wir uns gern der Diskussion und dem Gedankenaustausch: Was lässt sich mit der einen Lösung (Agentur) erreichen, was mit der anderen (beispielsweise Projektträger)? Zudem ist es oftmals gar kein Entweder-Oder, wie der Umstand zeigt, dass die VDI/VDE-IT gemeinsam mit dem Projektträger Jülich die operative Projektbetreuung für die SPRIN-D durchführt.
Ich finde es richtig, dass mit der Agentur-Diskussion die Fragen nach neuen Freiheiten, Agilität einer Neuausrichtung etc. aufgeworfen werden. Aber diese Diskussion sollte auf Basis von Erkenntnissen und Evidenz geführt werden und nicht nach Gefühlslage. Und dem Staat darf nicht die alleinige Verantwortung gegeben werden. Ich würde auch von Unternehmen erwarten, dass sie allein aus Eigeninteresse nicht aktiv darauf zuwarten, dass jemand ihre Probleme löst. Wenn ich höre, dass Firmen gar nicht wissen, wo und wie sie sich beispielsweise über Förderangebote informieren können, muss man sich schon fragen, ob wir hier wirklich ernsthaft Innovationen erwarten dürfen.
Frage: Anstelle der Innovationsagenturen haben Sie in einem jüngeren Positionspapier parallel zum Koalitionsvertrag eine Vielzahl von Vorschlägen unterbreitet, an welchen Stellen das bestehende Innovationssystem in Deutschland reformiert werden könnte, um agiler zu werden. Wo würden Sie ansetzen?
Dr. Bovenschulte: Allen unseren Überlegungen ist gemein, dass es nicht so sehr um die Änderung der Organisationsform der Innovationsförderung geht, sondern um deren Funktionalität. Die folgenden Punkte sind Beispiele, die sicher nicht für jede Form und Zielsetzung der Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovationen gelten, sondern in erster Linie für die Ermöglichung rascher technischer Fortschritte. Hier sind es im Grunde genommen wenige Elemente: Zum einen sollte auf eine klare Ergebnisorientierung fokussiert werden. Es ist nicht so wichtig, wie das Projekt sein Ziel erreicht, sondern dass es sein Ziel erreicht. Natürlich müssen von den Projektpartnern die üblichen Spielregeln eines redlichen Geschäftsgebarens eingehalten werden, aber im Grunde genommen ist es doch unwichtig, ob wie geplant zwei oder drei wissenschaftliche Hilfskräfte bei einer Rechercheaufgabe unterstützt haben oder ob das dann im Projektverlauf kurzfristig ein Dienstleister übernommen hat.
Mit der Ergebnisorientierung eng verbunden ist eine gröbere Körnung der Arbeits- und Finanzplanung bis hin zu einem Globalbudget, das von den Projektpartnern mit einer entsprechenden Flexibilität und ohne längliche Umwidmungen und Restriktionen zwischen Kostenpositionen verwendet werden kann. Eine solche planerisch-finanzielle Flexibilität entspricht viel eher den Unsicherheiten von Innovationsprozessen, als fein säuberlich ausgefüllte Planungstabellen für die nächsten drei Jahre eines Projekts. Allein um diesen Punkt umzusetzen, müssen zahlreiche Hebel umgelegt werden, da die bisherige kleinteilige Kontrolllogik der Förderung weitgehend außer Kraft gesetzt wird.
Forschungswettbewerbe – Geht doch!
Das zweite Element ist eine stärkere Wettbewerbsorientierung von Förderung. Diese findet bisher praktisch ausschließlich im Rahmen der Antragstellung statt. Ist die Förderbewilligung erst erteilt, reduziert sich der Wettbewerb darauf, dass irgendjemand auf der Welt zufällig auch eine ähnliche Idee haben und diese schneller umsetzen könnte. Lässt man hingegen fünf Projekte in einem gestuften Wettbewerb gegeneinander antreten, dürfte sich die Chance auf einen raschen Fortschritt erhöhen. Es ist schon erstaunlich: Auf der einen Seite bewundern wir in vielen Themen die Innovationskraft der USA, scheuen uns auf der anderen Seite aber, deren mitunter knallharte Mechanismen zu übernehmen, weil sie angeblich nicht in unsere Landschaft passen. Dabei sind deutsche Teams bei den oft international ausgerichteten Wettbewerben häufig ganz vorne dabei. Geht doch.
Das dritte Element betrifft die Rolle der Unternehmen als Verwerter der Ergebnisse. Laut beklagt wird hier gern das „Tal des Todes“, das zwischen dem Ende der Förderung von Forschung und Entwicklung bis zum vorwettbewerblichen Demonstrator und der Erlangung der Marktreife liegt. Wie bitte? Es muss mir als Unternehmen doch klar sein, dass sich an den Demonstrator noch Arbeiten anschließen. Und wenn ich das nicht leisten kann oder will, bin ich eigentlich nicht ausreichend leistungsfähig für die vorgesehene Innovation. Das ist keine Schande, aber womöglich doch ein Förderkriterium. Es ist ja sicher richtig, dass Unternehmen bei der Ideenfindung, der Machbarkeitsuntersuchung, der Partnersuche, der Antragstellung, der eigentlichen FuE+I und der Ergebnisverwertung geholfen wird. Aber das darf nicht dazu führen, dass der unternehmerische Geist damit sediert wird.
Frage: Diese vielfältigen Vorschläge dürften das gesamte bestehende Innovationsystem ein Stück weit auf den Kopf zu stellen. Glauben Sie, dass die bestehenden Strukturen diese Anforderungen unterstützen und nicht viel mehr anhaltenden systemischen Widerstand dagegen leisten würden?
Dr. Bovenschulte: Das bestehende Modell der Innovationsförderung hat sich über die Jahre und Jahrzehnte entwickelt und etabliert. Und während es sehr wohl erfolgreich war – der Blick auf die bisherige wissenschaftlich-technische Geschichte der Bundesrepublik ist im Wesentlichen eine Erfolgsgeschichte – hat es natürlich zu Pfadabhängigkeiten in den Strukturen und Prozessen, aber auch in den Köpfen geführt. Und manch jahrelang eingeübte und sicher beherrschte Praxis müsste sich nun ändern. Solche Änderungsprozesse verursachen immer Widerstände und auch Widersprüche.
Noch deutlich größer dürften die Änderungsprozesse jedoch ausfallen, wenn Agenturen etabliert werden, die mitunter ganze Themen – etwa in Entsprechung inhaltlicher Missionen – vereinen und weitgehend autonom bearbeiten. Was bis dahin in verschiedenen Referaten, Abteilungen oder sogar unterschiedlichen Ministerien verantwortet wurde, wird nun unter Umständen in einer eigenständig agierenden Agentur zusammengeführt. Für die Ministerien würde das an dieser Stelle im Zweifelsfall bedeuten: Geld weg, Einfluss weg. Dass das nicht nur auf Begeisterung stößt, lässt sich wohl an zwei Fingern abzählen.
Daher brauchen wir eine Diskussion über die Neu- oder auch Umgestaltung der Innovationsförderung. Bei allen Transformationsprozessen reden wir davon, dass wir die Menschen mitnehmen müssen und ausgerechnet bei der Innovationsförderung soll das anders sein? Zudem ist eine politische Rückkopplung in jedem Fall wünschenswert und notwendig.
Frage: Bitte wagen Sie eine realistische Prognose oder Ausblick: Wären Ihre Reformvorschläge in kürzerer Zeit zum Beispiel in einer Legislatur tatsächlich zu verwirklichen?
Dr. Bovenschulte: Grundsätzlich halte ich viele Änderungen und Vereinfachungen für relativ rasch umsetzbar, wenn nicht nur der politische, sondern auch der operativ-administrative Wille vorhanden ist. Das politische Signal „Mehr Fortschritt wagen“ muss ja auch in der Linie gehört und umgesetzt werden. Dazu müssen sich die Akteure aber alle einig sein. Es darf dann nicht sein, dass die Förderpraxis einfache Prozesse mit mehr Freiheiten vorsieht, die von einer eng gefassten Prüfpraxis konterkariert werden. Und grundlegende Änderungen, die von europäischen Rahmensetzungen wie etwa dem Wettbewerbsrecht abhängen, werden natürlich länger dauern.
Fehler vermeiden wollen als Ziel?
Insgesamt gehe ich nicht davon aus, dass das ein homogener Prozess über alle Themen und Akteure innerhalb einer Legislaturperiode sein wird. Vielmehr werden wir es mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu tun haben: Während einige Akteure und Förderprogramme rasch ausprobieren werden, neue Mechanismen anzuwenden und damit hoffentlich die erwünschten Ergebnisse zu erzielen, dürften andere erstmal abwarten. Das wird – genau wie im Innovationsprozess – sowohl von Strukturen als auch von den handelnden Personen abhängen. Personen hingegen, deren primäres Ziel es ist, keine Fehler zu machen, werden hier mit hoher Wahrscheinlichkeit keine „first mover“ werden.
Frage: Könnte ein reformiertes System die angestrebten Ziele an Innovation wie Sprunginnovation, beschleunigter Transfer, Missionsorientierung, Vernetzung oder die Inklusion der Zivilgesellschaft etc. wirklich leisten? Oder braucht es dafür nicht doch ergänzende Agenturen wie SPRIN-D oder DATI?
Dr. Bovenschulte: Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht abschließend. Und ich bin verständlicherweise nicht ganz neutral in dieser Thematik. Die SPRIN-D gibt es bereits und die DATI wird großer Wahrscheinlichkeit kommen. Die angestoßenen Fragestellungen müssen aber im Kontext des Gesamtsystems gestellt werden, und dabei gibt es natürlich viele Hinweise für das eine und das andere, doch so richtig umfassend und unter Einschluss der einschlägigen Stakeholder scheint mir die Diskussion noch nicht geführt. Das hielte ich angesichts der Tragweite, die für die Ausrichtung der Innovationsförderung damit verbunden sein könnte, jedoch für angemessen. Und es sollte dabei das Bauhaus-Motto „Form follows Function“ gelten: Erst müssen wir wissen, was wir erreichen wollen und müssen, und dann können wir dafür die beste Organisationsform suchen. Und wenn das dann eine eigenständige Agentur ist, freuen wir uns darauf, mit dieser zusammenzuarbeiten oder als innovativer Projektträger auch mit ihr in den Wettbewerb um die besten Ideen zu treten. Wir wollen doch alle das Gleiche: Erfolgreiche Innovationen.
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