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Falk Steiner
8. November 2019

Was macht eigentlich Daniel Düsentrieb?

Zahlreiche Innovationen der Gegenwart sind lediglich die effiziente Skalierung vorhandener Lösungsansätze, kleine Adaptionen bewährter Modelle. Zudem sind sie häufig nur Convenience-Erfindungen, die keine gesellschaftlichen Probleme lösen. Auch für viele Unternehmen könnten digitale Innovationen mit Anspruch größere Vorteile schaffen.

Es ist zum Haare raufen: Der Zeitgeist in Deutschland scheint kein Erfinder zu sein. Doch mit den Möglichkeiten der Digitalisierung werden gerade Voraussetzungen geschaffen, um heute Probleme zu lösen, die bislang unlösbar schienen. Nur der Fokus liegt falsch.

Stellen wir uns vor, der phantasiebegabte Disney-Cartoonist Carl Barks hätte nicht schon in den 1950er Jahren seinen legendären Daniel Düsentrieb erfunden, sondern würde ihn heute zum Leben erwecken. Nicht zu einer Zeit, in der die meisten Erfindungen auf Metall und Schrauben, Elektrizität und Verbesserung der Kraftübertragung basierten, sondern im Zeitalter der Digitalisierung.

Innovationen neu denken

Und auch nicht in den Nachkriegsjahren, als nicht nur in den USA technische Innovation mit menschlichem Fortschritt gleichgesetzt wurde. Denn im neuen Jahrtausend, in dem nun wirklich alles möglich erscheint, stellt sich die Frage nach dem Wert von Erfindungen und Innovation ganz neu:  Was können wir durch sie zusätzlich wirklich gewinnen? Oder besteht latent die Gefahr durch sie sogar etwas wieder zu verlieren?  Es geht uns doch gut, und der Antrieb, neue Dinge auszuprobieren, ist gering. Die Umstellungskosten für jeden Einzelnen von uns erscheinen oft zu hoch, als dass etwas Neues unbefangen ausprobiert wird.

Weil durch die Digitalisierung die Kosten für Software zwar gering, aber doch nicht gering genug sind um Jedermann die Chance zu ermöglichen, eigene Ideen zu verwirklichen, gibt es vor allem einen Zweig der sich derzeit durchsetzt und in dem Daniel Düsentrieb wahrscheinlich unterwegs wäre – das Plattformgeschäft. Wahrscheinlich hätte Daniel heute sogar ein Startup-Unternehmen mit Einhorn-Perspektiven und würde bereits im zweiten Kapitel von Dagobert Duck – weiterhin ausschließlich auf Kapitalertrag fixiert – aufgekauft und ausgebootet.

Grundsätzlich folgt das Prinzip erfolgreicher Innovation heute scheinbar nur noch einem gleichbleibenden Muster: Zuerst steht eine Problemidentifikation, dann folgt das Lösungsangebot und sodann muss schnellstmöglich Marktakzeptanz erzielt werden. Und wie gelingt dies? Die derzeit sicherste Wette ist eine Infrastruktur, natürlich in Form einer digitalen Plattform.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Wie zum Beispiel Orderbird, eine Software, die ein softwarebasiertes Kassensystem ist. Einmal richtig konfiguriert reicht ein Tablet für ein solches Kassensystem aus, um jede etablierte Registrierkasse das Fürchten zu lehren: finanzamtstaugliche Belege, eine Analyse der Umsätze, Warenwirtschaftssystem, Gäste-WLAN-Verwaltung – all das geht mit ihrer vergleichsweise kleinen und neuen Software nochmals viel besser, schneller und günstiger. Und setzt sich diese Software als Marktstandard durch, kann der Hersteller umgekehrt den Preis dafür nahezu beliebig ausgestalten. Onkel Dagobert lässt grüßen.

Auch die Idee hinter Plattformen wie Lieferando, Foodora, Deliveroo oder Lieferheld ist eine grundsätzlich ähnliche: Restaurants, die bisher keinen Bringdienst hatten, können über die Plattformen einen neuen Markt für sich erschließen – gegen Gebühr, versteht sich. Und Kunden können bequemer Essen bestellen und liefern lassen. Kaum gegründet ist auch in diesem Markt schon nach wenigen Jahren bereits eine enorme Konzentrationsbewegung im Gange, am Ende könnte ein einziger Anbieter stehen, der die Lieferinfrastruktur für Essen aus Restaurants bietet.

Auch die Bringdienste beim Einkaufen sind solcher Natur: natürlich ist es bequem – und vielleicht sogar umweltfreundlicher dafür auf das eigene Auto zu verzichten und sich den Großeinkauf nach Hause liefern zu lassen. Spätestens hier würde Carl Barks seinen Zeichenkindern Tick, Trick und Track in die Sprechblase zeichnen: „OK, Onkel Dagobert – für dich ist das vielleicht schlau, aber für echte Pfadfinder doch viel zu blöd.“

Lösungen ohne gesellschaftlichen Mehrwert

Denn die Beispiele sind einerseits durchaus innovative und erfolgreiche Geschäftsmodelle. Zugleich bleiben sie allenfalls vergleichsweise kleine Adaptionen etablierter Modelle. Das eine Mal ist es die Zusammenführung verschiedener Geräte für Waren- und Buchhaltungsvorgänge in einer Anwendung. Das andere Mal ist es die skalierte Übertragung eines etablierten Geschäftsmodells, des Essen-Bringdienstes, auf eine möglichst hohe Zahl von Anbietern und Nachfragern. Bei den Einkaufsbringdiensten reduziert sich das Ganze sogar auf eine möglichst hohe Zahl an Nachfragern.

Es sind im Kern simple Ideen, deren Nutzwert sich auch dem Laien schnell erschließt. Allerdings: sie sind keine großen Erfindungen. Vor allem aber lösen sie weder ein relevantes gesellschaftliches Problem noch führen sie zu wesentlichen Verbesserungen in der Substanz. Sie sind Convenience-Innovationen, die vor allem auf Lock-In-Effekte abzielen.

Woran es derzeit jedoch mangelt: Innovation mit Anspruch. Also dem Willen, nicht nur das Etablierte verfeinern und in ebenfalls bereits etablierte Geschäftsmodelle zu gießen. Sondern einen Schritt zurückzugehen und zu überlegen, was mittelfristig für die Bürger und Verbraucher, Unternehmen und Organisationen sinnvolle Anwendungen und Infrastrukturen sein können.

Auch in der Politik wird derzeit zu sehr auf das Intermediär-Geschäftsmodell geschaut. Insbesondere in den ‚alten‘ Industrien spielen digitale Intermediäre zwar eine zunehmend wichtige Rolle. Aber sie dürfen weder aus unternehmerischer noch aus politischer Perspektive ein Selbstzweck bleiben.

Ein Erfinderfonds als Biotop

Denn es könnte sogar für die Industrieunternehmen im Wandel von Vorteil sein, wenn sie nicht von schnell hochgezogenen, überbewerteten StartUps abhängig sind. Denn diese stehen immer in der Gefahr von ihren Investoren meistbringend verkauft zu werden. Wichtiger für die Industriezweige wäre es, wenn bestimmte grundlegende und branchenübergreifende Intermediär-Tätigkeiten gar nicht erst ausschließlich auf Profitmaximierung ausgerichtet wären, sondern auf Verfügbarkeit und Sicherheit. Das gilt von Sensordatenauswertungsplattformen über Standard-KI-Entwicklungen bis hin zur Cybersicherheitsarchitektur: hier könnte ein konditioniertes Sharing die Entwicklung von Schnittstellen, Standards und Kriterien, die Verwaltung von bestimmtem, die Gemeinschaft betreffendem geistigen Eigentum wie Umweltdaten eine angestrebte Entwicklung insgesamt deutlich besser voranbringen, bei geringerem Ressourceneinsatz.

Kombiniert mit einem Erfinderfonds, der aus diesen Gemeinschaftsprodukten neue Ideen entwickeln hilft, könnte hieraus die Kreativität entstehen, die derzeit fehlt. Hierfür braucht es allerdings einen passenden politisch gesetzten Rahmen. Das bedeutet einen geschützten Raum und ein Biotop für mehr digitale Daniel Düsentriebs in Deutschland. Sie müssen die Chance bekommen nicht nur bis zur Digitalisierung des Vorhandenen zuzüglich eines Lock-In-basierten Intermediärs zu denken, um sich dann sogleich bei der „Höhle der Löwen“ zu präsentieren.

Der Zweck der Idee ist entscheidend

Sie müssen vielmehr die Chance bekommen und sich auch noch zwei oder drei Schritte weiter vorantrauen, um weitere Möglichkeiten für darauf aufbauende Ideen zu erkunden oder zu schaffen. Für innovative Lösungen, die einen gesellschaftlichen Bedarf adressieren oder gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstum schaffen. Daniel Düsentrieb hätte an dieser Stelle vielleicht einen 3D-Drucker erfunden, der jede Ingenieursidee auf Knopfdruck in der Welt materialisiert. Oder eine Handyhülle, die einen konfigurierbaren Sensor für Umweltdaten beinhaltet, damit auf Kopfhöhe beim Telefonieren die Umweltbelastungen mitgemessen werden. Eine Infrastruktur, bei der Lebensmittel- und Konsumgüterproduzenten Chargennummern, Mindesthaltbarkeitsdaten und Produkteigenschaften hinterlegen können und mit der Verbraucher ihre Einkäufe sinnvoller managen können, um Ressourcen und Geldbeutel zu schonen. Oder einfach nur eine App, in der jeder seine digitalen Endgeräte eintragen kann, die Bescheid sagt, wenn kritische Sicherheitsupdates für diese zur Verfügung stehen. Selbst eine Software, die Politikern und Verwaltungen auf der fachlich zuständigen Ebene aktuelle, konstruktive Vorschläge zur besseren Gestaltung konkreter Lebenssituationen unterbreitet? Daniel Düsentrieb hat stets als Ziel, das gerade kaum Vorstellbare mit Erfindergeist möglich zu machen.

Gesucht werden also die Daniel Düsentriebs der anbrechenden 20er Jahre für eine Vielzahl herbeigesehnter Erfindungen der digitalen Art. Es müssen dabei längst nicht immer disruptive Wundertüten oder Sprunginnovationen sein. Doch nicht das Geschäftsmodell, sondern der eigentliche Zweck der Innovation gehört in den Vordergrund: das Leben und Zusammenleben besser zu machen. Längst haben Fachleute auch schon Felder für große erfolgversprechende Innovationsbereiche der kommenden 15 Jahre identifiziert. Etwa eine ressourcenschonende, nachhaltige Landwirtschaft durch Digitalfarming, Steuerungssysteme gegen den Verkehrsinfarkt, digitalisierte Pharmaforschung zur Krebsbekämpfung, an individuellen Bedürfnissen ausgerichtete digitale Pflegeassistenzsysteme, Nanofilter und CO2-Gasfänger gegen den Klimawandel… Derzeit läuft auch dort vieles in Richtung Plattformen und zentralisierte Winner-takes-All-Infrastrukturbetreiber. Doch Carl Barks Zeichenstift liegt griffbereit. Es ist scheinbar die Innovationspolitik, der im Jahrhundert unbegrenzter Möglichkeiten die Kreativität abhandengekommen ist. Oder vielleicht auch nur die Phantasie für wirkliche Innovationsgeschichten und der Mut, diese zu ermöglichen.

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