Innovation gilt als einer der zentralen Schlüssel einer nachhaltigen Gesellschafts- und Wirtschaftsgestaltung – wie bereits die UN im SDG 9 festhalten. Die Gründe für diese Bedeutungsbeimessung liegen auf der Hand: Solch drängende Herausforderungen wie der Klimawandel, die Überbeanspruchung der natürlichen Ressourcen oder die Frage der Krisenresilienz lassen sich nicht mehr durch partikulare Anpassungen oder gängige Instrumente bewältigen. Vielmehr bedarf es grundlegender Systemtransformationen, in denen sich gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen ergänzen. In diesem Sinne muss sich eine moderne Innovationspolitik in den Dienst einer ganzheitlichen, nachhaltigen Entwicklung stellen, indem sie ökonomische und gesellschaftliche Belange wirksam und strategisch miteinander verknüpft.
Wie lässt sich eine solche Innovationspolitik entwerfen und schließlich umsetzen? Welche strategischen und institutionellen Voraussetzungen sind hierfür nötig? Diesen Fragen ist die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem dem Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI in einer weltweiten Good-Practice-Recherche nachgegangen. Dabei führt der Blick auf innovationspolitisch erfolgreiche Länder vor Augen: Bei allen Unterschieden zeigen sich einige verbindende Erfolgsfaktoren, gerade hinsichtlich der Strategie- und Governance-Frage.
Der Ausgangspunkt: Ambitionierte und umfassende Strategien
Länder, die eine an gesellschaftlichen Bedürfnissen ausgerichtete Innovationspolitik verfolgen, formulieren diesen Anspruch explizit in entsprechenden Strategien und betrachten die anschließende Umsetzung als zentrale staatliche Aufgabe. Im Gegensatz zu früheren innovationspolitischen Paradigmen, die eher auf die Steigerung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit fokussierten, rücken diese neueren Politiken den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt und richten innovationspolitische Handlungen auf gesellschaftliche Ziele, sogenannte Missionen, aus. Beispiele dafür sind etwa die Bekämpfung bestimmter Krankheiten oder die Entwicklung zukunftsfähiger Mobilitätssysteme. Die politische Intervention bezweckt damit eine Systemtransformation hin zu gesellschaftlich erwünschten Zielen und nicht die bloße Behebung von Markt- oder Systemversagen.
Üblicherweise zeichnen sich missionsorientierte Strategien durch ein hohes Maß an Direktionalität und Intentionalität aus. Das heißt, es werden spezifische, gemeinschaftlich ausgehandelte Ziele gesetzt, welchen wiederum eine nachvollziehbare Absicht zugrunde liegt. Erfolgsfaktoren sind dabei:
- Ambitionierte Formulierung: Innovation sollte nie Selbstzweck sein, sondern als zentraler Hebel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung anerkannt werden. In diesem Sinne sollten die Ziele ambitioniert, mutig und umfassend formuliert werden
- Verbindung von Problemlösung und Wettbewerbsfähigkeit: Die Lösung gesellschaftlicher Probleme lässt sich komplementär mit industrie- und wirtschaftspolitischen Prioritäten koppeln. Wachstum, Wohlstand und Nachhaltigkeit müssen sich nicht ausschließen.
- Wertorientierung: Moderne Innovationspolitik folgt nicht rein marktwirtschaftlichen Präferenzen. Vielmehr traut sie sich eine normativ begründete Ausrichtung entlang gesellschaftlicher Bedürfnisse zu.
- Konkrete Handlungsfelder: Gute Strategien benennen konkrete Handlungsfelder und Transformationsziele, ohne das Innovationsgeschehen zu sehr einzuengen. Die Vorgabe von Zeitfenstern und die Zuweisung strategischer Eigentümerschaften bei gleichzeitiger Eröffnung von Gestaltungsspielräumen sind hierbei wichtige Faktoren.
Zugegeben: All dies klingt kompliziert und abstrakt. Allerdings lassen sich diverse Länder aufführen, von denen man hinsichtlich der Strategieformulierung hierzulande lernen könnte:
- In Japan strebt das Konzept der „Society 5.0“ eine gesamtgesellschaftliche Transformation an. Unter dem Dach einer geteilten Vision arbeiten viele Akteure gemeinsam am Zielbild einer neuen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe, in denen Mensch und Maschine Hand in Hand agieren.
- In Kanada umfasst die ehrgeizige KI-Strategie nicht nur die technologische, sondern explizit auch gesellschaftliche und ethische Dimensionen (hier ein Porträt von Kanadas Innovationslandschaft)
- Die britische Industriestrategie verbindet eine eher „klassische“ Wettbewerbspolitik mit innovationspolitischen Missionen, wie etwa sauberes Wachstum und die Nutzung von KI in der Medizin. Der Aufbau von Zukunftsindustrien und die Durchdringung globaler Märkte widerspricht dabei nicht dem Wunsch nach nachhaltigem Fortschritt
- Die schwedische Innovationspolitik nutzt die SDGs als normative Leitplanke (hier ein Porträt von Schweden), und in Kanada hat man mit der Montreal Declaration for a Responsible Development of AI eigens einen Wertekanon für die Entwicklung von Zukunftstechnologien entworfen
- Generell verschreiben sich innovationsstarke Länder der risikoaffinen Förderung von (digitalen) Schlüsseltechnologien mit Querschnittscharakter – die inkrementelle, nicht unbedingt zukunftsträchtige Weiterentwicklung bestehender Technologien ist hier zweitrangig
Grenzübergreifende Koordination und Bottom-up-Prozesse als essenzielle Umsetzungsmechanismen
Eine gute Strategie ist selbstverständlich erst der Anfang, denn auch auf der Umsetzungsebene ergeben sich neue Anforderungen an unsere Innovationssysteme. Gerade die Realisierung ambitionierter Innovationsstrategien setzt neue Konfigurationen von Akteuren, Institutionen und Praktiken voraus. Um den komplexen Problemlagen unserer Zeit und der Perspektivenvielfalt unserer Gesellschaften gerecht zu werden, müssen Innovationsaktivitäten über Fachdisziplinen, Sektoren und Ressorts hinweg koordiniert werden. Hierbei gilt es, stets alle relevanten Stakeholder einzubeziehen. Innovation entsteht durch Dialog und die Überwindung von fachlichen, kulturellen und räumlichen Grenzen. Nur durch eine übergreifende Abstimmung sowie partnerschaftliche Aushandlung können gesellschaftliche Bedarfe identifiziert und nötiges Engagement initiiert werden. Auch erhöhen Partizipation und Verbindlichkeit die gesellschaftliche Akzeptanz für grundlegende Transformationen.
Wiederum lassen sich im Ausland zahlreiche Beispiele finden, die diese Ansätze erfolgreich mit Leben füllen:
- Der schwedische Innovationsrat gestaltet partnerschaftlich und konsensorientiert den Dialog über Innovationsthemen, was letztlich zu einem hohen Commitment der beteiligten Akteure führt. Dass der Rat unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten tagt, verleiht der „Innovationssache“ zusätzlich Gewicht und öffentliche Aufmerksamkeit
- In Großbritannien und Schweden bilden spezialisierte Agenturen wie UKRI oder Vinnova wichtige Säulen des Innovationssystems. Auch in anderen Ländern wie Israel oder Finnland findet man ähnliche institutionelle Ansätze. Aufgrund ihrer fachlichen Expertise und Unabhängigkeit verfügen diese „Change Agents“ über eine hohe Glaubwürdigkeit und entlasten andere Institutionen. Oft übernehmen sie Verantwortung für die Umsetzung von Missionen, koordinieren die Prozesse der Aushandlung von Missionspfaden, schaffen Experimentierräume, vernetzen und orchestrieren verschiedenste Akteure mit Blick auf die strategischen Innovationsziele und moderieren den sektorenübergreifenden Austausch. Indem sie zwischen verschiedenen Handlungsebenen vermitteln, tragen sie zur Fortentwicklung einer ganzheitlichen Innovationsstrategie bei und schwächen potenzielle Ressortegoismen ab. Sie übernehmen im Sinne „strategischer Intelligenz“ auch eine wichtige Rolle, neue Technologietrends aufzuspüren sowie die gesellschaftlichen Effekte der Innovationspolitik messbar zu machen. Agilität, Unabhängigkeit, eine hoch qualifizierte, auf Diversität setzende personelle Ausstattung und ein starkes Mandat vonseiten der Politik sind Voraussetzung ihres Erfolgs
- In innovativen Ländern basiert die innovationspolitische Schwerpunktsetzung auf diskursiven, sektorenübergreifenden und partizipativen Aushandlungsprozessen. Dies schließt explizit eine Bottom-up-Einbeziehung gerade auch zivilgesellschaftlicher Stimmen ein, wie sie in den Niederlanden (Polder-Modell) oder Schweden beispielhaft ist. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor besteht darin, dass Vertreter:innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gleichermaßen daran beteiligt sind, im Konsens gesellschaftliche Herausforderungen zu identifizieren und Transformationspfade auszuarbeiten. Hierdurch erhöhen sich die Passgenauigkeit der Innovationsstrategien, die gesellschaftliche Akzeptanz für Interventionen sowie die Mitverantwortung für Veränderungsprozesse. Organisiert werden solche Aushandlungsprozesse beispielsweise von den nationalen Innovationsagenturen
- Zudem gilt: Aushandlungsprozesse sollten in möglichst konkrete Ergebnisse und Ansätze münden. Ein herausragendes Beispiel ist die bereits genannte Montreal Declaration, die auf Basis öffentlicher Konsultationsprozesse erstellt wurde
Zusammengenommen bedeutet dies: Die Formulierung und Umsetzung moderner Innovationspolitiken setzt einen differenzierten Instrumentenmix auf der Strategie- und Governance-Ebene voraus. Wie die folgende Abbildung verdeutlicht, sind gerade die grundlegende Zieldefinierung, übergreifende Austauschprozesse und Change Agents wichtige Bausteine einer solchen Politik.
Konkrete Lernimpulse für das deutsche Innovationssystem
Trotz aller Innovationserfolge gibt es auch in Deutschland große Handlungsbedarfe: Die Corona-Krise führt strukturelle Schwächen vor Augen. Die Digitalisierung lahmt, die Herausforderungen des Klimawandels und des globalen Technologiewettlaufs nehmen zu. All dies verlangt nach ambitionierten, potenziell transformativen Lösungen, die gesellschaftliche Belange ins Zentrum rücken. Zwar weist die Hightech-Strategie des Bundes missionsorientierte Ansätze auf, jedoch ist sie besonders hinsichtlich der fach-, sektoren- und ressortübergreifenden Koordination, der Zuweisung von Zuständigkeiten sowie der Prozesse zur gemeinschaftlichen Entscheidungs- und Lösungsfindung durchaus verbesserungswürdig.
Gerade in der Krisenphase bietet sich nun die Chance und Notwendigkeit, bisherige Innovationspolitiken zu überarbeiten und sich über eine neue Prioritätensetzung zu verständigen. Dabei können bestehende Stärken weiterhin ausgespielt werden: Insbesondere in Deutschland gibt es lange Innovationstraditionen, auf denen man aufsetzen kann. Gleichzeitig sollte man Neues wagen, beispielsweise durch
- mutige, auf Transformation ausgelegte strategische Ziele, denen eine eindeutige und nachvollziehbare Wertebasis zugrunde liegt
- ein klares Bekenntnis zur risikoaffinen Förderung von Schlüsseltechnologien sowie
- die Einrichtung eines „Change Agents“, der horizontale wie vertikale Grenzen überwindet, Austauschprozesse moderiert und Innovationsaktivitäten orchestriert (wie auch hier vorgeschlagen)
All dies würde die Attraktivität des Innovationsstandorts Deutschland über die Grenzen hinaus erhöhen, zur Gestaltung eines eigenen europäischen Innovationsweges beitragen und es zudem ermöglichen, Innovationspolitik zum Hebel einer grundlegenden Systemtransformation zu machen.
Diesem Beitrag liegt die gemeinsam von der Bertelsmann Stiftung und dem Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI verfasste Studie „Good-Practice-Beispiele für missionsorientierte Innovationsstrategien und ihre Umsetzung“ zugrunde. Sie ist Teil der Serie „Innovation for Transformation“. Darin stellen wir gemeinsam Strategien, Politiken und Instrumente vor, die geeignet sind, die Innovationskraft in Deutschland und Europa zu fördern. Zum einen, um technologisch – und damit wirtschaftlich – wettbewerbsfähig zu bleiben. Und zum anderen, um durch Innovation die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Hierfür wurden Good-Practice-Beispiele aus 13 Ländern analysiert. Auf diesem Blog werden in loser Reihenfolge die wichtigsten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen der Studienserie „Innovation for Transformation“ noch ausführlich zusammengefasst. Die kommende Folge wird sich dem Thema „Austausch und Vernetzung in missionsorientierten Innovationsprozessen“ widmen.
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