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Dr. Jan C. Breitinger
19. Mai 2021

„Die Kathedralen missionsorientierter Innovation bauen.“

In ihrem jüngsten Buch, das in diesen Tagen auf Deutsch erscheint, plädiert Mariana Mazzucato für ein neues Verständnis von Kapitalismus und Staat. Besonders erkenntnisreich sind ihre Erfahrungen aus der praktischen Gestaltung und Umsetzung moderner Innovationspolitiken, die zuvorderst gesellschaftlichen Zielen dienen. Dr. Jan Breitinger hat es für uns bereits ausführlich und kritisch gelesen. 

Mit ihrem neuen Werk „Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft“ hat die Wissenschaftlerin und Politikberaterin Mariana Mazzucato innerhalb weniger Jahre ein drittes Buch vorgelegt, das wiederum um die Frage kreist: Wie lassen sich mittels gezielter (missionsorientierter) Innovationen die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen – und welche Rolle sollte besonders der Staat dabei spielen? Zweifelsohne haben ihre hochgelobten Vorwerke „Wie kommt der Wert in die Welt?“ und „Das Kapital des Staates“ in innovationspolitischen Kreisen – und auch darüber hinaus –große Wirkung erzielt und ein neues Denken verstärkt. Das lässt den Interessierten schnell zum nächsten Titel greifen. Dennoch stellt sich gerade angesichts der wohlfundierten vorherigen Publikationen die Frage, welch grundlegend neue Erkenntnisse es nun in so rascher Abfolge zu vermelden gibt.

Um es vorwegzunehmen: Das Neue besteht vor allem aus Mazzucatos vielfältigen Erfahrungen aus ihrer praxisnahen internationalen Beratungstätigkeit, die sie in eine Art Handreichung zur Entwicklung moderner Innovationspolitiken übersetzt. Nach den eher theorielastigen Vorüberlegungen der letzten Jahre geht es ihr nach eigener Aussage nun darum, „die Kathedralen missionsorientierter Innovation zu bauen“ (Seite 202) und „gute Theorie“ in „gute Praxis“ (Seite 201) zu verwandeln. Diesem Unterfangen widmet Mazzucato den zweiten, sehr lesenswerten Teil des Buches.

Von der Mondlandung zu den Sustainable Development Goals

Die ersten vier Kapitel gestalten sich hingegen als historischer Rückblick auf frühere innovationspolitische Paradigmen und als ausführliche Dekonstruktion gängiger Vorstellungen von Staatsrolle und Kapitalismus. Am Beispiel der Mondlandung (und all der dafür nötigen Vorarbeiten) handelt Mazzucato ab, worauf es bei großen Innovationsprojekten ankommt: Visionen, Leadership, Risikoaffinität, Kollaboration, organisationale Dynamik, Langfristorientierung und – zentral in ihrem Denken – eine tragfähige Partnerschaft zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor. Die Erkundung des Weltraums gerät so zum Orientierungsbeispiel für die großen Missionen, die man heute erfüllen müsse, wie etwa die Erreichung der Sustainable Development Goals oder die Umsetzung des Green New Deals. Das alles präsentiert die Autorin anschaulich, wobei sich mitunter die Frage aufdrängt, ob die sozial-, politik-, technik-, wirtschafts-, weltgeschichtlichen Zusammenhänge nicht doch zu sehr simplifiziert werden, um schlussendlich von einer Übertragbarkeit früherer Muster auf aktuelle Herausforderungen sprechen zu können. Und manche Ausführungen – wie zur Rolle der US-amerikanischen Innovationsbehörde DARPA – erscheinen redundant zu ihren früheren Schriften: Hat man das nicht schon irgendwo gelesen?

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Die Schwachstellen des Kapitalismus

Einen ähnlichen Eindruck gewinnt man, wenn Mazzucato unser Verständnis von und unsere Erwartungen an Markt und Staat auf den Prüfstand stellt. Stellenweise fühlt man sich stark an viele Publikationen der letzten zwei Jahrzehnte erinnert, in die einen Blick zu werfen noch immer lohnt.* Bei aller Verwunderung vieler darüber, dass sich da eine renommierte Wissenschaftlerin auf Marx beruft, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass ihre Analysen auf einer stabilen Erkenntnisbasis aufbauen. Zwar verbindet ihre Kapitalismuskritik viele Einsichten geschickt miteinander, bietet im Kern jedoch nur bedingt Neues.

Nichtsdestotrotz benennt sie wichtige Punkte, und wahrscheinlich liegt der Mehrwert dieser Kapitel darin, dass sich hier eine prominente Stimme mit großer Prägnanz für ein alternatives Denken ausspricht. Gerade in dieser Krisenzeit, die ja auch Reflektionszeit sein sollte. Zwar beschreibt Mazzucato das kapitalistische System ob der Schwächen und Lösungsinkompetenz anderer (beispielsweise autoritärer) Systeme als im Grunde alternativlos. Allerdings kranke es an vielen Stellen, wie sie treffend analysiert: Das Unternehmensmanagement folge Kurzfristinteressen, der Shareholder-Value stünde über jenem der Stakeholder, systemrelevante Arbeit werde nicht ausreichend honoriert, viel Reichtum konzentriere sich ungerechterweise in den Händen einiger weniger, der Ressourcenverbrauch übersteige die planetaren Grenzen. Letztendlich kreise das Wirtschaftssystem zu sehr um Wachstum und Expansion und nicht um das eigentlich wünschenswerte Ziel, nämlich die Befriedigung konkreter menschlicher Bedürfnisse. Um diese Fehlentwicklung zu überwinden, bedürfe es einer konsequenten Ausrichtung des Marktes am Public Purpose; der Markt soll damit nicht mehr Selbstzweck sein, sondern einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft dienen. Das lässt sich nur unterstreichen.

Neue Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft

Wie das gelingen kann? Laut Mazzucato durch eine Neugestaltung der Beziehung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Bislang manifestiert sich danach Nachhaltigkeit größtenteils nur als ein gern zitierter „Feel-good-Faktor“ (Seite 202); für eine Erreichung (der ja schon längst vorliegenden) Nachhaltigkeitsziele braucht es jedoch verbindliche Zusagen, eindeutige Verantwortlichkeiten und klare Machtverhältnisse. Und hierfür sei ein neues Verständnis vom Staat und seiner Rolle vonnöten. Der Staat solle nicht nur ausbessern, kitten und flicken, sondern proaktiv handeln und selbstbewusst die Richtung vorgeben – in den Worten der Autorin: „Entsprechend kann die Rolle des Staates sich nicht darauf beschränken, im Falle ihres Versagens reaktiv Märkte zu reparieren, sondern er muss Märkte explizit mitgestalten, um die Resultate zu erbringen, die die Gesellschaft braucht. Er kann und sollte die Richtung bestimmen, in der die Wirtschaft sich entwickelt” (Seite 42). Was den Staat für diese Rolle prädestiniert? „Der Grund dafür liegt auf der Hand: Nur der Staat hat die Möglichkeit, diesen Wandel im benötigten Maße zu dirigieren“ (Seite 45). Und ob der Staat das kann? Das sei zumeist nicht das Problem: Staatliche Institutionen würden vieles gut bewerkstelligen, allerdings nicht die richtigen Prioritäten setzen. Zu sehr drehten sich die Diskussionen um Profit, Effizienz und Kosten – also wirtschaftliche Merkmale – und nicht um die Kernaufgabe staatlichen Handelns, nämlich: „Der öffentliche Zweck [public purpose] muss im Mittelpunkt einer kollektiven Wertschöpfung stehen, um für eine bessere Deckung von Wertschöpfung und Wertverteilung zu sorgen. Außerdem sollte Letztere nicht auf eine bloße Umverteilung (ex post) hinauslaufen, sondern auf eine Vorumverteilung (ex ante): auf eine symbiotischere Art von Beziehung, Zusammenarbeit und Teilen zwischen den wirtschaftlichen Akteuren“ (Seite 26). Voraussetzung für dieses Handeln sei letztendlich ein neues Verständnis vom Staat, das sich schon im Vokabular ausdrücken müsse: Aus „Staatsdienern“ sollten agil und dynamisch handelnde „Partner bei der Wertschöpfung und Marktgestalter“ werden (Seite 260; im Englischen: „co-creators“ und „co-shapers“).

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Die sieben Säulen der Innovationspolitik

Damit legt Mazzucato die Grundlagen für die Behandlung der Innovationsfrage, die in ihren Augen – und dem lässt sich nur zustimmen – eine Überlebensfrage ist. Was braucht es nun, um eine Innovationspolitik zu entfachen und zu gestalten, die sich zuvorderst um gesellschaftliche Probleme kümmert? Auf Basis ihrer langjährigen Beratungstätigkeit formuliert die Autorin sieben „Säulen“, auf die es hierbei ankommt (Seite 207 ff.):

  1. Werte: Alles staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Handeln muss einem für die „Gemeinschaft als Ganzes“ geschaffenen Wert dienen
  2. Märkte sollten zuvorderst die Schaffung dieser Werte befördern. Insbesondere staatliche Institutionen sind aufgerufen, Märkte entsprechend zu gestalten
  3. Nur durch übersektorale Teilhabe lassen sich gemeinsame Ziele definieren und Lösungen für komplexe Herausforderungen finden
  4. Faire Partnerschaften zwischen allen Akteuren sind essenziell. Nicht nur die Kosten, auch die Risiken und Gewinne müssen fair verteilt werden – der Stakeholder-Value sollte zur Orientierungsgröße werden
  5. Verteilung: Alle Wertschaffenden müssen angemessen vom Fortschritt profitieren. Inklusivität ist eine Voraussetzung einer gerechten Gesellschaft
  6. Organisationen (gerade auch im öffentlichen Sektor) müssen Strukturen schaffen, die Lernprozesse und Kreativität begünstigen und Risikoaffinität belohnen
  7. Es braucht einen neuen Blick auf Finanzen: Diese sind kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur (langfristigen) Schaffung von Werten

Damit bindet die Autorin zentrale Erkenntnisse der jüngsten innovationspolitischen Forschung und Praxis zusammen und schafft einen Handlungsrahmen, der Entscheidungsträger:innen die nötige Orientierung bei der Gestaltung gemeinwohlorientierter Politiken geben sollte. Zwar bleiben auch in diesem Kontext noch immer Fragen offen: Sind die viel bemühten Missionen wirklich das Allheilmittel, als das sie bisweilen präsentiert werden? Wie steht es um die nötige Veränderungsbereitschaft und Lösungskompetenz im öffentlichen Sektor? Wie befähigt man diesen zum Mithalten und Austausch mit autoritären Systemen oder hochdynamischen und finanzstarken Weltkonzernen? Auf diese doch wesentlichen Fragen bietet das Buch größtenteils nur kursorische Antworten.

Trotzdem: Mariana Mazzucato hat ein fundiertes, detailreiches und ausgewogenes Buch verfasst, das sich aufgrund seiner Eingängigkeit und Multiperspektivität an ein breites Publikum richtet: Politische Entscheider:innen kommen genauso auf ihre Kosten wie an historischen, betriebs- und volkswirtschaftlichen, soziologischen oder ökologischen Zusammenhängen Interessierte. Darin liegt auch schon ein großer Mehrwert des Werks, denn Innovationspolitik ist heute mehr denn je vor allem ein Querschnittsthema, das ein konstruktives Zusammenspiel vieler Handlungsbereiche und -ebenen erfordert. Überzeugend und motivierend wirbt Mazzucato diesbezüglich für einen Abbau von Berührungsängsten – zwischen einzelnen Sektoren, jedoch vor allem zwischen Theorie und Praxis. Im Sinne einer nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftsgestaltung ist ihren Gedanken nur eine große Verbreitung zu wünschen.

Mariana Mazzucato: Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft (2021). Erschienen bei Campus.

 

* Beispielsweise Acemoğlu und Robinson: „Why nations fail“; Chang: „23 Things they don’t tell you about Capitalism“; Scherhorn: „Geld soll dienen, nicht herrschen“; Vogl: „Das Gespenst des Kapitals“.

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