Graphik: Axel Sommer © SOMMERRUST 2020
Dr. Axel Sommer
7. September 2020

Szenario-inspirierte Innovation: wie man von der Zukunft lernt

Gerade in Krisenzeiten erweisen sich Szenarioprozesse als hilfreiche Instrumente der Risikobestimmung und Zukunftsplanung, die gleichzeitig auch neue Chancen und Innovationen inspirieren können.

Im Zuge der Corona-Pandemie wird häufig davon gesprochen, dass die Krise wie ein Brennglas bestehende Probleme sichtbar mache. Missstände in der Fleischindustrie oder fehlende Digitalisierung in Schulen sind nur zwei Beispiele, bei denen offenbar erst durch das „Corona-Brennglas“ echter Handlungsdruck entstanden ist. Gleichzeitig wurden durch die Krise auch Chancen aufgezeigt, z.B. für eine größere Flexibilität durch Home-Office oder die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitsbereich – Stichwort „Corona-App“.

Leider ist es kein idealer Zustand, wenn wir immer erst eine tiefe Krise durchleben müssen, bevor wir wichtige Probleme angehen oder entsprechende Chancen ergreifen. Doch es gibt eine Möglichkeit, Brenngläser künstlich zu erzeugen – ganz ohne die negativen Konsequenzen einer Pandemie, eines massiven Wirtschaftsskandals oder einer großen Umweltkatastrophe: Szenarios.

© Geralt – Pixabay

Szenarien als Brenngläser ohne Nebenwirkungen

Szenarios erlauben es, die Auswirkungen von Trends und Unsicherheiten in Form von zukünftigen Gedankenwelten zu simulieren. Dadurch können wir quasi von der Zukunft lernen, ohne die zum Teil schmerzhaften Lektionen tatsächlich durchleben zu müssen. Wir können langfristige Fehlentwicklungen antizipieren und Vermeidungsstrategien entwickeln. So haben wir speziell für die Corona-Krise vier Szenarien für das Jahr 2030 entwickelt, welche mögliche langfristige Konsequenzen für Deutschland aufzeigen (mehr dazu später).

Durch Szenarien lassen sich aber nicht nur Risiken reduzieren. Auch für Innovation können Szenarien eine Inspirationsquelle sein: Schließlich sind Menschen, die eine erdachte Szenariowelt im Jahr 2030 bevölkern, nichts anderes als potenzielle Nutzer/Kunden/Wähler aus der Zukunft. Ihre Bedürfnisse unterscheiden sich auf systematische Weise vom typischen Nutzer im Jahr 2020. Szenario-spezifische Zukunftskunden haben andere Präferenzen, Einstellungen und Gewohnheiten, zum Beispiel in Bezug auf Nachhaltigkeit oder ihr Online-Kaufverhalten. Mit diesen zukünftigen Bedürfnissen im Blick kann die Politik vorausschauende Regulierungen schaffen und Unternehmen können Produkte und Geschäftsmodelle entwickeln, die ihrer Zeit weit voraus sind.

An diesem Punkt bringen Kritiker mehrere Einwände vor, darunter die folgenden drei:

  • Der Timing-Einwand: Ein Geschäftsmodell, das erst in fünf bis 10 Jahren funktioniert, ist in der Gegenwart nicht sonderlich nützlich.
  • Der Bestätigungseinwand: ein Szenario-Geschäftsmodell ist zunächst nur eine theoretische Überlegung, die ggf. erst viel später validiert werden kann, z.B. durch Tests mit realen Nutzern im Jahr 2030 oder kurz davor.
  • Der Vielwelteneinwand: Es bleibt lange unklar, welche der potenziellen Zukunftsnutzer wirklich über die Erde wandeln werden – schließlich existieren immer mehrere, gleichberechtigte Szenarien.

Häufig liegt diesen Einwänden die Vorstellung zugrunde, dass die Zukunft ein einheitliches, stufenartiges Phänomen darstellt, das irgendwann plötzlich „da“ ist. Tatsächlich haben jedoch selbst drastische Marktveränderungen einen zeitlichen Verlauf – erst im Rückblick erscheint es uns z.B. so, dass auf einmal „jeder ein Smartphone hatte“. Der Realität näher kommt die Vorstellung, dass Veränderung wie Wasser eines verästelten Flusses hin zur Zukunft fließt – einer mehr oder weniger weit entfernten, imaginären Linie. Typischerweise ist die Veränderung in einigen Bereichen schon viel näher an die Linie gerückt als in anderen. Sprich, es dürfte schon heute Menschen geben, die ähnlich denken und handeln, wie es der zukünftige „Mainstream“ tun wird. Häufig könnten szenario-inspirierte Innovationen daher bereits in der Gegenwart in einer Nische erfolgreich sein. Und sollten die heutigen technischen Möglichkeiten nicht weit genug sein, dann könnte eine technisch einfachere (Vor-)Version realisierbar sein.

Wenn die Zukunft in einigen Bereichen früher Realität wird, dann bedeutet das außerdem, dass man „Lead User“, die ihrer Zeit voraus sind, gezielt finden und zur Validierung der szenario-inspirierten Lösungsideen heranziehen kann. Dadurch lässt sich übrigens auch ein fundamentaler Kritikpunkt an nutzerzentrierten Innovationsmethoden wie Design Thinking lösen, nämlich dass diese nur gegenwärtige und nicht zukünftige Nutzerbedürfnisse berücksichtigen würden. Diese Vorboten der Zukunft sind dabei nicht zwangsläufig technisch besonders versierte oder intensive Nutzer. Denkbar ist auch, dass sie Wert auf Produkteigenschaften wie Einfachheit oder Nachhaltigkeit legen, die bis dato für die meisten Anwender nachrangig sind.

Es bleibt der dritte Kritikpunkt, der Vielwelteneinwand. Zwar wird es in vielen Fällen möglich sein, eine Innovation auch in eintretenden Alternativszenarien zu realisieren – wenn auch vielleicht nur in einer Nische. Allerdings stimmt es natürlich, dass stets eine fundamentale Unsicherheit in Bezug auf das tatsächliche, zukünftige Marktpotenzial besteht. Daher sollten Unternehmen bei szenario-inspirierter Innovation keine einzelnen, großen Wetten auf eine bestimmte Zukunft eingehen, sondern ein Portfolio an vielen kleinen Innovationsvorhaben zusammenstellen und diese über den Zeitverlauf bedarfsgerecht skalieren. Durch gezieltes „Tracking“ der Szenarien anhand von relevanten Indikatoren werden die wahrscheinlichen Gewinner früh erkennbar. Der zeitliche Vorsprung und das Lernpotenzial, das szenario-inspirierte Innovation bietet, sollte das verbleibende Risiko allemal wert sein.

Corona hat die Zukunft beschleunigt – vier Szenarien für die langfristigen Folgen in Deutschland

Die Corona-Pandemie ist nicht nur ein Brennglas für gegenwärtige Probleme, sie ist auch ein Katalysator für Veränderung – und eröffnet damit viele neue Chancen für Innovation. Die Verbreitung des Home-Office oder das Wachstum im Online-Handel sind nur zwei Beispiele, wie die Krise Entwicklungen auf wenige Wochen oder Monate komprimiert hat, die ansonsten womöglich viele Jahre gedauert hätten.

In gewisser Weise hat Corona die Zukunft beschleunigt – jedenfalls eine bestimmte Variante davon. Nicht jede Corona-bedingte Veränderung wird jedoch Bestand haben. Aufgrund des disruptiven Charakters der Krise lässt sich aus heutiger Sicht unmöglich voraussagen, welche langfristigen Folgen sie genau haben wird. Aus diesem Grund haben wir bei SOMMERRUST im Rahmen unserer Initiative „The Pandemic Aftermath“ im März vier Szenarien für das Post-Corona-Deutschland im Jahr 2030 entwickelt:

Graphik: Axel Sommer © SOMMERRUST 2020

Die vier Szenarien im Überblick

  1. Das erste Szenario heißt „Digital Egosystem“ und beschreibt eine wohlhabende, weitgehend digitalisierte Welt, in der die Menschen ihr Leben digital optimieren. Den damit einhergehenden Verlust an Autonomie und Privatsphäre nehmen die meisten Deutschen dabei gerne in Kauf, um in den Genuss von besserer Gesundheit, mehr Sicherheit und messbarem, persönlichem Erfolg zu kommen.
  2. Das zweite Szenario, „The Viral Spiral“, beschreibt hingegen ein Deutschland, das stark unter den Folgen der Krise leidet. Das Virus hat eine Abwärtsspirale aus Firmenpleiten, Arbeitslosigkeit, Frustration, Populismus und Verschwörungstheorien in Gang gesetzt. Diese Entwicklung hat der Wirtschaft und dem politischen System permanenten Schaden zugefügt – nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU und darüber hinaus. Um der frustrierenden Realität zu entgehen, flüchten sich viele Bürger in Online-Unterhaltung wie z.B. Streaming, Spiele oder Glückspiel – einem der wenigen florierenden Wirtschaftszweige weltweit.
  3. Im Gegensatz dazu ist das Szenario „Solidarity RULES!“ geleitet vom Ideal der Solidarität – sowohl auf lokaler Ebene als auch international zur Bekämpfung von Armut oder Klimawandel. Durch die für viele auch psychisch sehr belastende Krise hat eine Mehrzahl der Deutschen erkannt, dass nicht Geld und Karriere, sondern menschliche Beziehungen das Wichtigste für sie sind. Materieller Besitz ist nicht mehr so bedeutend, Nachhaltigkeit dafür umso mehr. Davon abweichende Meinungen werden allerdings inzwischen kaum mehr toleriert. Wer dem neuen Weg der Solidarität nicht folgen mag, muss in dieser emotionalisierten Gesellschaft damit rechnen, öffentlich bloßgestellt und sozial ausgegrenzt zu werden.
  4. Im vierten Szenario, „Dare, with care“, haben die meisten Menschen für sich eine andere Lehre gezogen: dass wir gewisse Dinge – wie z.B. ein Virus – nicht vollständig kontrollieren können. Daher wird Unsicherheit als Teil des Lebens akzeptiert, der es letztlich auch interessant macht. Die Menschen trauen sich wieder mehr, wenn auch mit Bedacht. Sie erleben Abenteuer, verfolgen ihre Träume und gründen Unternehmen. Allerdings ist die neue Freiheit und die damit einhergehende Verschiebung der Verantwortung hin zum Individuum nicht für alle ein Segen. Menschen, die mehr als bloße Hilfe zur Selbsthilfe benötigen, um ihr Leben im Griff zu behalten, werden abgehängt und erhalten wenig Mitgefühl für ihr selbstverschuldetes Versagen.

Alle vier Szenarien sind sehr unterschiedlich und somit naturgemäß jeweils unwahrscheinlich (aber plausibel). Gerade aufgrund ihrer Diversität bieten die Szenarien reichlich Inspiration für Innovationen. Um die praktische Relevanz unserer Szenarien zu testen, haben wir eine Reihe an offenen Workshops mit Vertretern unterschiedlichster Sektoren wie z.B. Mobilität, Medien, Retail, Kultur oder dem Gesundheitssektor durchgeführt. Nicht selten wurden dabei Antworten auf Fragen gefunden, die bis dato nie gestellt worden waren. Während klassische Szenario-Projekte oft viele Monate dauern, waren unsere Szenarien bereits nach wenigen Tagen einsatzbereit, um über die Implikationen der Corona-Krise nachzudenken. Diese Geschwindigkeit wird in Zeiten immer kürzerer Innovationszyklen zunehmend wichtig, wenn man Antworten erhalten möchte, bevor die Frage veraltet ist.

Die Innovationsgeschwindigkeit steigt und die Strategie muss mithalten

Die breite Einführung einer neuen Generation von schnelleren, stärker fokussierten Szenarioprojekten – wir nennen sie „Scenario Sprints“ – könnte die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt erheblich steigern. Während viele Unternehmen schnelle Lernzyklen in der Produktentwicklung über agile Methoden bereits im Einsatz haben, folgt das strategische Lernen in der Regel noch dem alten Muster.

Die derzeitige Krise bietet für Unternehmen und öffentliche Institutionen eine besondere Chance, veraltete Gewissheiten in Frage zu stellen und in neue Richtungen zu denken. Gerne stellen wir unsere vier Szenarien hierfür als Startpunkt und Inspirationsquelle zu Verfügung (die Szenarien sind hier ausführlich beschrieben). Durch die vier Szenario-Perspektiven wird in der Regel schnell klar, welche Unsicherheiten kritisch sind. Konkrete Auswirkungen können dann für die gesamte Organisation oder auf Abteilungsebene analysiert werden. Zukunftsorientierte Organisationen sollten Szenariodenken zudem als Teil ihrer allgemeinen Führungskultur etablieren. Schließlich sollten Szenarien nicht nur sporadisch zum Einsatz kommen, sondern zur Basis einer Lernroutine über die Zukunft werden.

Auch Scenario Sprints bieten in der Regel keine einfachen Antworten. Fehleinschätzungen über die Zukunft wird es weiterhin geben. In einer sich schnell verändernden Welt, in der klassische Marktprognosen durch Ereignisse wie die Corona-Krise ad absurdum geführt werden, sind Scenario Sprints jedoch eine der wenigen verbleibenden Möglichkeiten, systematisch und proaktiv nach Innovationen zu suchen. Denn auch wenn es ein häufig zitiertes Klischee ist: „Der beste Weg, die Zukunft vorhauszusagen, ist, sie zu gestalten.“*

 

*Dieses Zitat wird verschiedenen Autoren zugeschrieben, u.a. Willy Brandt und Peter Drucker. Siehe z.B.: https://www.zeit.de/2017/40/rentenreform-schweiz-direkte-demokratie.

 

 

 

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