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Prof. Dr. Uwe Cantner
6. August 2021

Politikhandeln muss agiler werden!

In einem Interview skizziert Prof. Dr. Uwe Cantner, Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), welche dringlichen Aufgaben in der nächsten Legislaturperiode für die Forschungs- und Innovationspolitik anstehen. Er fordert mehr Agilität und erläutert, dass dies mehr umfasst, als schnell und flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Insbesondere bei der Umsetzung einer missionsorientierten Forschungs- und Innovationspolitik sieht er agiles Politikhandeln als einen entscheidenden Erfolgsfaktor an.

Herr Professor Cantner, die Bundestagswahl steht kurz bevor. Wie ist es um den Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland bestellt und welches sind in der kommenden Legislaturperiode die dringlichsten Aufgaben für die Forschungs- und Innovationpolitik?

Deutschland hat sein Forschungs- und Innovationssystem in den letzten beiden Dekaden durchaus gut vorangebracht und weiterentwickelt. Durch eine Reihe von Bund-Länder-Vereinbarungen, die im Rahmen der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz ausgehandelt wurden, hat das Wissenschaftssystem einen Schub bekommen. Mit der Hightech-Strategie wurde ein ressortübergreifender Politikansatz etabliert, der wichtige innovationsbezogene Initiativen und Maßnahmen der Bundesregierung bündelt. Die steuerliche Forschungsförderung wurde endlich eingeführt. Und die Forschungsintensität Deutschlands, also die Forschungsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, hat sich den internationalen Spitzenwerten angenähert.

So weit, so gut. Der kommenden Bundesregierung werden die Aufgaben trotzdem nicht ausgehen:

  • Wir haben große gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen – wie den Klimawandel und den demografischen Alterungsprozess der Gesellschaft. Hier steht auch die Forschungs- und Innovationspolitik in der Verantwortung, ihren Beitrag zu leisten. So lassen sich zum Beispiel die ambitionierten Treibhausgasminderungsziele, zu denen sich Deutschland verpflichtet hat, nicht ohne technologische und soziale Innovationen sowie neue Geschäftsmodelle erreichen.
  • Als weitere Aufgabe steht an, technologische Rückstände aufzuholen. So etwa läuft bei uns die digitale Transformation zu schleppend und wir riskieren, hier international abgehängt zu werden. Aber auch in anderen Bereichen, wie in den Lebenswissenschaften, besteht Nachholbedarf.
  • Der nächste Punkt ist die Sicherung der Fachkräftebasis. Mit dem bevorstehenden Übergang der Babyboomer in den Ruhestand nimmt der Anteil der aktiv im Erwerbsleben stehenden Bevölkerung spürbar ab. Gleichzeitig steigen infolge des digitalen Strukturwandels die Anforderungen an die berufliche Anpassungsfähigkeit.
  • Ein weiteres Problem, dem sich auch die kommende Bundesregierung widmen muss, ist die seit Langem sinkende Innovationsbeteiligung der Unternehmen. Sowohl in der Industrie als auch in den Dienstleistungen sinkt der Anteil innovativer Unternehmen. Auch die Unternehmensgründungen weisen einen rückläufigen Trend auf.
  • Meine Liste mit den dringlichsten Aufgaben für die Forschungs- und Innovationspolitik der kommenden Legislaturperiode möchte ich mit einem Appell abschließen: Politikhandeln muss agiler werden!

Sie plädieren für mehr Agilität in der Forschungs- und Innovationspolitik. Sprechen Sie sich damit gegen die Neuauflage einer auf mehrere Jahre ausgerichteten Hightech-Strategie aus?

Agiles Politikhandeln zeichnet sich in meinem Verständnis nicht nur durch eine schnelle und flexible Reaktion auf Veränderungen aus, sondern ist darüber hinaus proaktiv, bindet relevante Akteure ein, überprüft die von ihr eingeleiteten Maßnahmen kontinuierlich und adjustiert sie gegebenenfalls. Es geht hier auch um eine kluge Balance zwischen langfristiger Planung und kurzfristiger Anpassung. Eine neue, auf mehrere Jahre ausgerichtete Innovationsstrategie ist in diesem Sinne zu konzipieren. Sie erfordert einen kohärenten Politikansatz, der von allen Ressorts getragen wird und der den gesamten Innovationsprozess, von der Ideengenerierung bis zur breiten Nutzung der Innovationen, im Blick hat. Die Politik muss dies proaktiv vorbereiten. Gerade wenn es um die Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen geht, muss langfristig gedacht werden – vor allem auch über die jeweilige Legislaturperiode hinaus. Wir benötigen klare Ziele und eine Strategie, wie wir die Ziele umsetzen. Aber wir brauchen gleichzeitig auch eine positive Fehlerkultur. Es muss möglich sein, Ziele anzupassen. Und vor allem müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass alle Prozesse deterministisch steuerbar sind. Das ist nicht der Fall. Es ist vielmehr notwendig, Fehler zu akzeptieren und daraus zu lernen. Politiklernen muss stärker als bisher in die Prozesse integriert werden. Das bedeutet, dass wir auch Experimente wagen müssen, dass wir Monitoring-Prozesse sowie Evaluationen benötigen und dass in den Ministerien Reflexionsräume geschaffen werden müssen.

Kurzum: Ich halte es für erforderlich, in der nächsten Legislaturperiode wieder eine Innovationsstrategie zu entwickeln. Diese sollte noch stärker als bisher als lernende Strategie angelegt sein. Der Name „Hightech-Strategie“ hat aus meiner Sicht allerdings ausgedient. Er betont zu einseitig die Bedeutung technologischer Innovationen. Aber gerade vor dem Hintergrund der großen gesellschaftlichen Herausforderungen gewinnen soziale Innovationen und neue Geschäftsmodelle an Bedeutung.

Mission Zukunft gewinnen: © Foto PIRO4D auf Pixabay

In der noch laufenden Legislaturperiode verfolgt die Bundesregierung sogenannte Missionen, um die ressortübergreifende Zusammenarbeit zu stärken und Forschungsergebnisse gezielt in die Umsetzung zu bringen. Halten Sie das für einen zielführenden Ansatz, der auch in der nächsten Legislaturperiode weiterverfolgt werden sollte?

Der in der Hightech-Strategie angelegte Ansatz einer missionsorientierten Forschungs- und Innovationspolitik sollte weiterverfolgt, aber aus strategischer und operativer Sicht auch fortentwickelt werden.

Bei einer missionsorientierten Forschungs- und Innovationspolitik geht es darum, Innovationsaktivitäten in gesellschaftlich vereinbarte Richtungen zu lenken, die die privatwirtschaftlichen Akteure nicht von selbst einschlagen. Es sollen Transformationsprozesse eingeleitet oder beschleunigt werden, die auf die Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen abzielen. Ausgangspunkt ist bei diesem Politikansatz die Formulierung von Missionen, die konkrete Transformationsziele beinhalten und durch politische Maßnahmen umgesetzt werden sollen. Die derzeit im Rahmen der Hightech-Strategie verfolgten Missionen wurden unter Federführung des BMBF in einem Top-Down-Ansatz formuliert. Ich denke, hier sollte man zukünftig – im Sinne des von mir skizzierten Agilitätsbegriffs – eine breitere Partizipation anstreben. Ich halte es für sinnvoll, bei der Formulierung neuer Missionen eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Ressorts sowie eine aktive Einbeziehung von Akteursgruppen, Expertenrunden, Bürgerinnen und Bürgern sowie Ländern und Kommunen sicherzustellen. So kann man eine gute Informationslage und darüber eine geteilte Problemwahrnehmung auf breiter Ebene schaffen, die die Akteure in Politik und Verwaltung für eine angemessene Ziel- und Prioritätendefinition benötigen. Darüber hinaus kann eine breite Partizipation der Gesellschaft die Akzeptanz von getroffenen Entscheidungen verbessern.

Die Neue Missionsorientierung ist ein Ansatz der F&I-Politik, der auf die Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen gerichtet ist und auf einen transformativen Wandel der Wirtschaft und Gesellschaft abzielt. Dazu werden sogenannte Missionen formuliert, die konkrete Transformationsziele spezifizieren und durch F&I-Projekte sowie politische Maßnahmen und Rahmensetzungen umgesetzt werden sollen. Um die Neue Missionsorientierung erfolgreich realisieren zu können, ist agiles Politikhandeln erforderlich. © Graphik EFI Gutachten 2021

Die Umsetzung von Missionen ist komplex und es ergeben sich hohe Anforderungen an die Politikkoordination. Auch hier ist agiles Politikhandeln gefragt. So haben Missionen, die auf eine Reduktion von Treibhausgasemissionen abzielen, Schnittstellen zur Umwelt-, zur Steuer- und zur Sozialpolitik. Die Forschungs- und Innovationspolitik kann also umso erfolgreicher sein, je besser sie zeitlich und inhaltlich mit anderen Politikfeldern abgestimmt ist. Für die interministerielle Koordination der Hightech-Strategie wurde eine Runde der Staatssekretärinnen und -sekretäre eingerichtet. Ich denke, das reicht bei der Umsetzung komplexer Missionen nicht mehr aus. Hier bedarf es anderer Strukturen und Prozesse. Deshalb sollte die interministerielle Koordination in der nächsten Legislaturperiode weiter gestärkt werden. Es wäre sinnvoll, für jede Mission eine eigene interministerielle Task Force aufzusetzen. Diese sollte jeweils mit Entscheidungskompetenzen und einem eigenen Budget ausgestattet werden. Auch die Koordination innerhalb der Ressorts sollte erleichtert werden. Je nach Art der Mission sollten abteilungsübergreifende Projektteams aufgebaut oder eigene missionsorientierte Einheiten innerhalb der Organisationsstruktur geschaffen werden.

Abschließend möchte ich noch einmal auf das Thema Politiklernen zurückkommen. Ihm kommt im Zusammenhang mit missionsorientierter Forschungs- und Innovationspolitik eine herausragende Bedeutung zu. Gerade wenn es um die Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen geht, sind wir mit einem hohen Maß an Unsicherheit konfrontiert. Ein auf systematischen Rückkopplungsprozessen basierendes, reflexives Handeln erlaubt es, mit dieser Unsicherheit ziel- und erfolgsorientiert umzugehen.

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