Prof. Dr. Jürgen Rüttgers
29. Juni 2021

Der Innovator

Er war Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie sowie fünf Jahre Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, zuletzt auch Vorsitzender der High Level Strategy Group on Industrial Technologies und Special Adviser der Europäischen Kommission. Zum 100. Geburtstag würdigt Professor Jürgen Rüttgers das Wirken des Unternehmers und Stifters Reinhard Mohn. Sie verbindet nicht nur vielfältige Kooperationsprojekte sondern auch ihre Leidenschaft für das Thema Innovation.

Als die Nachricht vom Tode Reinhard Mohns am 3. Oktober 2009, dem Tag der Deutschen Einheit, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bertelsmann erreichte, waren viele ratlos. Sie konnten sich Bertelsmann ohne ihn nicht vorstellen. Sie waren traurig und dachten an die Familie Mohn. Mancher Bertelsmann-Mitarbeiter erinnerte sich an die große Aufbauleistung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wussten, dass unter seiner Leitung die Belegschaft die Ärmel aufgekrempelt hatte, auf Lohnerhöhungen verzichtet und dadurch das notwendige Kapital für Investitionen erarbeitet hatte. Grundlage des Erfolges war die Partnerschaft zwischen Unternehmer und Arbeiterschaft. Sie hatten sich auf die Überwindung des Klassenkampfes und die soziale Marktwirtschaft eingelassen. Und sie alle hatten mit ihm an der Spitze Erfolg gehabt. „Ich habe mich gefragt, was muss ich tun, damit Menschen mitmachen beim Wiederaufbau.“ Seine Antwort war: „ein Dach über dem Kopf und ein gesicherter Arbeitsplatz.“ Reinhard Mohn war einer der ersten Unternehmer, die die Verbindung von wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit vorlebten. Er war ein Pionier der Sozialen Marktwirtschaft. Unternehmer sind nicht nur für den Gewinn verantwortlich, sondern auch für die Gesellschaft. Weil die Mitarbeiter ihm vertrauten, hatte Reinhard Mohn Erfolg. Dieser war ihm nicht in die Wiege gelegt worden.

Reinhard Mohn wurde am 29. Juni 1921, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, in Gütersloh geboren. In diesen Tagen wäre er 100 Jahre alt geworden. Er hatte eine herausfordernde Kindheit und Jugend. Sein Vater hatte eine Lungenkrankheit und musste die Schule abbrechen. Er zog aus Gütersloh weg. Sein ältester Bruder Hans Heinrich wollte Offizier werden. Er starb bereits neun Tage nach dem Überfall auf Polen. Seine Schwester Ursula interessierte sich in den bewegten Zeiten der Nazidiktatur für Politik. Der Zweitälteste, Sigbert, geriet in russische Gefangenschaft. Der jüngste Bruder, Gerd, kehrte verletzt aus dem Krieg zurück. Sein Vater, der das Unternehmen leitete, schrieb Reinhard, der in amerikanischer Gefangenschaft war, er müsse die Firma übernehmen. Dies war notwendig, weil er als unbelastet galt und deshalb die Lizenz des Buchverlages von den britischen Alliierten erhalten konnte.

Anfang 1946 wurde er freigelassen. Auf Wunsch seines Vaters verzichtete er auf ein Studium und übernahm nach einer Ausbildung als Buchhändler mit 25 Jahren die Leitung des Bertelsmann-Verlages. Die Geschäfte gingen schlecht. Mohn übernahm 1950 die Idee seines Vertriebschefs, einen ‚Lesering‘ zu gründen. Es war eine ‚Königsidee‘. Schon 1951 hatte der Bertelsmann-Lesering 100.000 Mitglieder. 1961 waren es schon 2,5 Millionen begeisterte Leser und Musikhörer. Die Idee war so erfolgreich, dass sie in vielen Ländern in Europa und Amerika eingeführt wurde. Zum Unternehmen gehören inzwischen die RTL Group, der weltweit größte Buchverlag Penguin Random House, der Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr, die Musikgruppe BMG, der Dienstleister Arvato, die Bertelsmann Printing Group, die Bertelsmann Education Group und Bertelsmann Investments. 130.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten weltweit bei Bertelsmann. Schon 1981 trat Mohn als Vorstandsvorsitzender im Alter von 60 Jahren zurück und übernahm den Vorsitz des Aufsichtsrates.

Besuch des SPD-Bundeskanzlerkandidaten Willy Brandt bei Bertelsmann im Bundestagswahlkampf 1961. Mohn zeigt dem damals regierenden Bürgermeister von Berlin die neu fertig gestellten technischen Betriebe. Wegen seiner innovativen Unternehmenskultur und Mitarbeiterbeteiligung galt der Gütersloher Unternehmer Kritikern schon zuvor als der „rote Mohn“. © Foto: Bertelsmann SE

1977 hatte er schon die Bertelsmann Stiftung gegründet. Sie sollte eine „unabhängige Forschungseinrichtung und Reformwerkstatt“ sein. Mohn wollte Neues wagen für das Unternehmen und die Gesellschaft. „Wir müssen den Mut aufbringen, neue Ziele zu definieren“, war sein Motto. 1993 übertrug die Bertelsmann AG die Mehrheit der Aktien auf die Stiftung. Heute werden 80,9 Prozent von Stiftungen und 19,1 Prozent von der Familie Mohn mittelbar gehalten. Neben der Sicherung des Unternehmens wollte Reinhard Mohn neue Wege gehen. Das war sein Auftrag an die Stiftung. „Ein Unternehmen zu führen ist nicht möglich ohne geistige Orientierung.“ So dachten er und seine Frau Liz Mohn sowie die Familie, die jetzt in der 6. Generation sein Erbe fortführt.

Als er nach dem Zweiten Weltkrieg Bertelsmann neu erfand, bat er seine Mitarbeiter um Hilfe. Sie sollten einen Teil ihres Einkommens in das Unternehmen investieren. Er setzte auf ihr Vertrauen. Reinhard Mohn führte als Gegenleistung für die Belegschaft eine partnerschaftliche Betriebskultur ein, die er auch als Unternehmensverfassung samt Gewinnbeteiligung für die Mitarbeiter normierte.

Es war die Zeit, in der Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Wirtschaftsminister Ludwig Erhard nach dem Krieg und der Gründung einer neuen Partei, der CDU, für eine Neuordnung der Wirtschaft nach dem Kapitalismus des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und der Kriegswirtschaft in der NS-Zeit kämpften. In einem Diskussionsprozess bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, der Erarbeitung des Grundgesetzes und der Wahl zum ersten Bundestag setzten beide die Soziale Marktwirtschaft durch. Zu den Prinzipien dieser neuen Form des Wirtschaftens und Arbeitens gehört der „Wettbewerb als Regelungs- und Preisfindungsmechanismus“, weil er wirksamer und gerechter als staatliche Ge- und Verbote (Wettbewerbsprinzip) ist. Eigenverantwortung soll belohnt und nicht bestraft werden (Anreizprinzip). Leistung muss sich lohnen (Leistungsprinzip). Den Schwachen, die sich selbst nicht helfen können, soll geholfen werden (Solidarprinzip). Investitionen in die Zukunft sind für die Allgemeinheit wichtiger als nur den Konsum zu fördern (Investitionsprinzip). Niemand darf diskriminiert werden (Fairnessprinzip). Nachhaltiges Wirtschaften ist wichtiger für das Überleben der Menschheit als kurzfristiger Profit (Nachhaltigkeitsprinzip). Die politische Entscheidung für eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung wie auch eine neue Unternehmenskultur der sozialen Partnerschaft wie zum Beispiel bei Bertelsmann führten zu dem, was wir heute Wirtschaftswunder und Wiederaufbau nennen.

Heute stehen wir vor einer weiteren wirtschaftlichen Revolution: dem Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. „In der Feudalgesellschaft standen Boden und Grundbesitz im Mittelpunkt der Ökonomie; in der Industriegesellschaft Maschinen und Kapital. In der Wissensgesellschaft dagegen kommt es ganz auf den Menschen an. Die klassischen Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit werden heute ergänzt und teilweise sogar ersetzt durch den Produktionsfaktor Wissen.“

Besuch des Unternehmens Toshiba in Tokio im Rahmen einer Japan-Reise 1963. Reinhard Mohn informierte sich oft vor Ort über die weltweiten Fortschritte in der elektronischen Datenverarbeitung. Sein Interesse auf dieser Reise galt insbesondere der Entwicklung von elektronischen Komplettsystemen. © Foto: Bertelsmann SE

Ich erinnere mich gut, als ich nach meiner Ernennung zum Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Reinhard Mohn in Gütersloh besuchte. Die Medien nannten mich damals den „Zukunftsminister“. Ich wollte mit ihm über die Zukunft unseres Landes reden. Es war die Zeit, in der Deutschland nach neuen Wegen für die Digitalisierung suchte. Ich hatte einige Projekte im Kopf, die ich mit ihm diskutieren wollte. Das eine war ein Intranet für unsere Hochschulen. Mit dem „Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (InKDG)“ wollte ich ein einheitliches Medienvertragsgesetz schaffen. Es gab weltweit massive Proteste. Die Idee des ‚Globalen Dorfes‘ schien vielen in großer Gefahr. Ich war mir sicher, dass Europa sich nur dann im ‚Cyber Space‘ würde behaupten können, wenn wir klare Standards und Normen hätten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir Kinderpornographie und Rassismus einfach hinnehmen wollten.

Reinhard Mohn hat mich damals ermutigt, diesen Weg weiterzugehen. Er hat mir aber auch geraten, den Weg der Digitalisierung unserer Gesellschaft zu fördern und weiterzuverfolgen.

Wissen ist nicht Information. Informationen, also Daten sind der Rohstoff für Wissen. Sie können anders als materielle Güter weitergegeben werden, ohne dass derjenige, der sie weitergibt, sie verliert. Wissensbasierte Produkte können praktisch immer neu eingesetzt werden. In der Wissensproduktion ist nur das erste Produkt teuer, häufig sehr teuer. Die Reproduktion ist verhältnismäßig billig. Der Produktionsfaktor Wissen verbraucht sich bei Gebrauch nicht, sondern er vermehrt und verbessert sich. Die Entwicklung zur Wissensgesellschaft ist die Antwort auf eine weitere große Herausforderung unserer Zeit: die Globalisierung.

Die ‚High Level Strategy Group on Industrial Technologies’, deren Vorsitzender ich war, hat im Auftrag der Europäischen Kommission Vorschläge für ein neues Innovationssystem vorgelegt. Innovationssysteme sind der Schlüsselfaktor für die gesamte Wertschöpfungskette. Sie verbinden Grundlagenforschung mit angewandter Forschung, technologische und nicht technologische Entwicklungen und umfassen Wissens-Institutionen sowie den öffentlichen und den privaten Sektor. 80 % des Wirtschaftswachstums der EU beruhen auf Investitionen in Produktivitätssteigerungen. Ohne Innovationen werden wir weder den ‚Demographischen Wandel‘, die Corona-Pandemie noch die Klimakatastrophe bewältigen. Ohne Innovationen hat Europa keine Zukunft. Ich bin stolz darauf, dass ich mit dem BioRegio-Wettbewerb die Biotechnologie nach Deutschland zurückholen konnte. Wir haben eines der besten Hochschulsysteme Europas, das jedem, egal wie hoch das Einkommen der Eltern ist, den Aufstieg durch Bildung ermöglicht. Noch nie hat es so viele Hochschulen in Nordrhein-Westfalen gegeben. Das neue Hochschulrahmengesetz hat den Hochschulen die Freiheit zurückgegeben.

All das hat Reinhard Mohn intuitiv erfasst. Deshalb hat er Bertelsmann globalisiert. Er hat in der Bertelsmann Stiftung eine Quelle für neues Wissen gesehen. Er wusste, dass nur der Mensch „Produzent, Vermittler und Konsument von Wissen“ sein kann. Deshalb hat er die Verantwortung in seinem Unternehmen auch dezentralisiert. Bertelsmann setzt sich für den Aufbau des Vereinten Europa ein. Reinhard Mohn hat viel über die Zukunft seines Unternehmens nachgedacht. Sein Ergebnis war: „Wir haben die Freiheit zu handeln. Wir sollten sie nutzen.“ Sein Erbe wurde durch seine Frau Liz und seine Familie weitergetragen und -entwickelt.

Reinhard Mohn in einer neuen Biographie des Historikers Joachim Scholtyseck

Es gibt nur wenige Menschen, an die 100 Jahre nach ihrer Geburt in der Familie, in seinem Unternehmen, in der Zivilgesellschaft erinnert wird. Nur wenige Menschen leben in ihrem Werk weiter. Für Reinhard Mohn gilt dies. Bis heute sind „Partnerschaft, Unternehmergeist, Kreativität und gesellschaftliche Verantwortung […] die Kernbestandteile der heutigen Bertelsmann Essentials“. Solange dies lebendig bleibt, wird Bertelsmann erfolgreich sein und Reinhard Mohn in Erinnerung bleiben.

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