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Prof. Dr. Dries Faems
19. Februar 2021

Von Alpha-Männchen zu Diplomaten: Innovative Ökosysteme brauchen neue Führungskräfte

Innovative Unternehmen müssen zunehmend mit einer Vielzahl von Partnern zusammenarbeiten, um integrierte Lösungen für ihre Kunden zu entwickeln. Sie können solche Innovationsökosysteme aber nur aufbauen, wenn sie auch eine andere strategische Denkweise entwickeln.

 

Während sich Unternehmen bislang vor allem darauf konzentrierten, ihren Anteil am Kuchen zu erhöhen, gilt im Innovationsökosystem die Spielregel, gemeinsam die Menge des Kuchens zu erhöhen und anschließend einen fairen Anteil daran zu erhalten. Dieses neue Denken erfordert aber auch eine andere Generation von Innovationsgestaltern. Die aktuelle Corona-Krise treibt Unternehmen dazu, ihre Digitalisierungsstrategien und -bemühungen deutlich zu beschleunigen. Dies wirft die grundlegende Frage auf: „Wie können sich Unternehmen in diesem neuartigen Kontext einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil schaffen?“ Um zu den Gewinnern im digitalen Zeitalter zu gehören, ist es entscheidend, seinen Kunden nahtlos integrierte Lösungen anzubieten. Wenn wir ein Auto kaufen, erwarten wir nicht nur, dass es uns zuverlässig und sicher von A nach B bringt. Wir erwarten auch eine optimale Nutzungsmöglichkeit unseres Fahrzeugs durch ein integriertes Infotainment-System, das etwa unsere Lieblingsmusik auf Abruf abspielen kann oder uns aktualisierte Daten der gegenwärtigen Wettersituation liefert. Wenn wir unsere bevorzugte Zeitung oder Zeitschrift lesen, erwarten wir, dass wir die neueste Ausgabe ohne Aufwand auf verschiedenen elektronischen Geräten herunterladen können und dass wir zusätzliche Podcasts anhören oder ergänzende Videos ansehen können, die uns weitere Hintergrundinformationen zu Themen liefern, die uns wirklich interessieren.

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Die Entwicklung solcher nahtlos integrierten Lösungen bedeuten neue Herausforderungen für innovative Manager. Oft verfügen Unternehmen nicht über alle erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, um dem Endnutzer eine derart vollständig integrierte Lösung individuell zur Verfügung zu stellen. Stattdessen müssen Unternehmen Innovationsökosysteme mit einem multilateralen Netzwerk von Partnern aufbauen, um ein neues Werteversprechen für die Nutzer zu schaffen. Um den Apple-Pay-Service einzuführen, musste Apple eine komplexe Konstruktion von Partnerschaften mit Finanzinstituten, Kreditkartenunternehmen, Händlern und Mobilfunkbetreibern errichten, damit Verbraucher ihr Smartphone problemlos für Finanztransaktionen nutzen können. Auch in der Automobilindustrie stellen wir fest, dass Unternehmen zunehmend Innovationsökosysteme aufbauen. Nachdem diese Unternehmen lange Erfahrungen mit vertikalen Partnerschaften vor allem zu Automobilzulieferern gemacht haben, sind sie nun gezwungen, noch weiter gefasste und komplexere Kooperationen aufzuspannen, notwendigerweise auch mit neuartigen Partnern. Der Automobilkonzern ZF beispielsweise startete 2017 das Projekt einer Blockchain-basierten Wallet, die es autonomen Autos ermöglichen soll, automatisch verschiedene Transaktionen auszuführen, wie z.B. die Entrichtung von Maut- und Parkgebühren oder das Bezahlen von Tankrechnungen. Um diesen neuartigen Service zu realisieren, hat sich ZF mit UBS and IBM zusammengetan. Mit anderen Worten: Das Unternehmen ist nun in einer Partnerschaft mit einem Finanzinstitut und einem Softwareanbieter tätig, aber kaum mit jenen Partnern, mit denen ZF bislang die Zusammenarbeit praktizierte.

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Während die Notwendigkeit von Innovationsökosystemen immer deutlicher wird, tun sich Unternehmen gleichermaßen schwer, solche kollaborativen Bemühungen zum Erfolg zu führen. Auf der Basis meiner eigenen wissenschaftlichen Forschungen sowie zahlreichen Diskussionen mit Praktikern möchte ich ein entscheidendes Kriterium herausstellen, das für den Aufbau erfolgreicher Ökosysteme unabdingbar ist. Insbesondere bin ich der festen Überzeugung: Damit Ökosysteme erfolgreich sein können, erfordert es eine Veränderung der Denkweise, bei der Unternehmen sich – wie eingangs beschrieben – nicht mehr darauf konzentrieren, den eigenen Anteil am Kuchen zu maximieren, sondern versuchen sollten, gemeinsam die Menge des Kuchens zu erhöhen, um anschließend einen fairen Anteil davon zu erhalten. Lassen Sie mich zur Veranschaulichung dieses zentralen Aspekts ein etwas ungewöhnliches Beispiel anführen.

Auf den ersten Blick wirkt der Place Jourdan in Brüssel nicht gerade wie eine sehr attraktive Location. Der Ort wird hauptsächlich von Einheimischen als Parkfläche genutzt und einige der Häuser rund um den Platz könnten von einer Renovierung profitieren. In normalen Zeiten ist der Place Jourdan jedoch einer der beliebtesten Orte in Brüssel, um zu entspannen. Jede Nacht ist er voller Leben, mit Menschen aus unterschiedlichen Nationalitäten, die die Außenterrassen der verschiedenen Bars bevölkern. Nicht nur Durchschnittsbürger, sondern selbst die prominentesten Akteure der Europa-Szene sind hier zu finden, wenn sie in Brüssel sind. Nach einer der zahlreichen Krisentreffen der jüngsten Zeit wurde zum Beispiel auch Angela Merkel am Place Jourdan gesichtet, als sie frisch frittierte Pommes aus der örtlichen Snackbar Maison Antoine in den Händen hielt.

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In der Mitte des Platzes gelegen ist diese Snackbar in der Tat der Dreh- und Angelpunkt des Place Jourdan. Der Erfolg von Maison Antoine ist in erster Linie aber nicht dem Geschmack ihrer Pommes Frites geschuldet. Hauptbestandteil des Erfolgsrezeptes sind die informellen Absprachen mit den Bars in der Nachbarschaft.  Denn gerade die Kunden, die ihre Pommes im Maison Antoine gekauft haben, dürfen diese auf den Terrassen der lokalen Bars essen, sofern sie dazu deren Getränke konsumieren. So verwandelt sich der Place Jourdan jeden Abend in eine lebendige Meile, in dem die Menschen ihre frittierten Köstlichkeiten im Maison Antoine kaufen und anschließend in Kombination mit einem der berühmten belgischen Biere genießen.

Auf diese Weise veranschaulicht der Place Jourdan recht hübsch die Kraft von Ökosystemen. Maison Antoine und die umliegenden Bars haben eine Umgebung geschaffen,  die den Verbrauchern ein einzigartiges und attraktives kulinarisches Erlebnis bietet. Dieses Ökosystem kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn alle beteiligten Akteure bereit sind, einen Teil des Gewinns den Kooperationspartnern zu überlassen. Weil die Leute ihre Pommes Frites in den lokalen Bars essen dürfen, hat dies den Effekt, dass sie selbst einen Teil ihrer Speisen weniger verkaufen. Umgekehrt kann das Maison Antoine weniger Getränke verkaufen, da die Kunden ihre Drinks auf den lokalen Terrassen konsumieren. Zusammen aber sind sie in der Lage, gemeinsam einen großen Kuchen zu kreieren – also einen überfüllten Platz mit Menschen, die Pommes und Bier konsumieren – und jeder von ihnen erhält davon einen fairen Anteil.

Große Plätze, wie der Groote Markt in Brüssel laden zu vielfältigen Aktivitäten ein. Innovative Märkte verlangen diplomatische Manager.
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Wie aber können Unternehmen diese neuartige Ökosystem-Mentalität entwickeln? Nach meiner festen Überzeugung werden jene männlichen Alpha-Tiere, die in den letzten Jahrzehnten vornehmlich die Titelseiten der Wirtschaftsmagazine zierten, nicht die Triebkräfte eines solchen kulturellen Wandels sein können. Diese Sorte von Führungskräften war äußerst erfolgreich darin, ihre Unternehmen in sehr wettbewerbsintensiven Umgebungen zu navigieren, in denen der Schwerpunkt auf einer aggressiven Erhöhung des Kuchenanteils für das einzelne Unternehmen lag. Meiner Meinung nach wird dieser Führungsstil wahrscheinlich scheitern, wenn ein Unternehmen in komplexen Ökosystemen tätig ist, in denen die Interessen verschiedener Unternehmen aufeinander abgestimmt werden müssen, um einen gemeinsam geschaffenen Kuchen zu maximieren.

Stattdessen brauchen wir eine neue Generation von Leadern, die in der Lage sind, als Diplomaten zu fungieren und eifrig nach einer akzeptablen Win-Win-Situation für alle beteiligten Akteure dieser Ökosysteme zu suchen. Ich glaube auch, dass der Bedarf an einem neuartigen Führungsstil eine bedeutsame Chance für eine jüngere Generation von ehrgeizigen Persönlichkeiten ist. Gemeinsam kreative Strukturen in „Minecraft“ aufzubauen, gemeinsam die Schurken auf Multiplayer-Plattformen wie „Roblox“ auszuschalten, dies sind zwei Beispiele dafür, wie die gegenwärtige Generation der Jugendlichen im Alltag lernt, einen gemeinsamen Kuchen zu vermehren. Ich bin zuversichtlich, dass diese Generation über die Fähigkeiten und die Denkweisen verfügen wird, um die nächste Welle erfolgreicher Innovationsökosysteme zu reiten.

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