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Digitale Demokratie: Europa kann von Taiwan lernen

Taiwan kommt besser durch die Pandemie als viele andere. Das liegt auch an einigen digitalen Innovationen und Audrey Tang. Sie ist Taiwan’s erste Digitalministerin und führt das Land hin zu einer digitalen Demokratie.

Taiwan hält COVID-19 in Schach. Das liegt auch an der Beteiligung der Bürger:innen und der civic tech Community. Digitale Partizipationswerkzeuge sind zu einem Grundpfeiler der taiwanesischen Demokratie geworden. Sie stärken kontinuierlich die Stimme der Bürger:innen. Dabei war Taiwan nicht immer eine innovative Demokratie. Erst 1987 wurde das Kriegsrecht aufgehoben. Die ersten Präsidentschaftswahlen gab es 1996. Zum Herzstück des demokratischen Fortschritts des Landes wurde 2012 eine Gruppe politisch engagierter „Bürgerhacker“, darunter Audrey Tang. Sie entwickelten neue, radikale Ansätze zur Bürgerbeteiligung. Heute ist Taiwans digitaler Zugang ein Schlüssel für die höchst erfolgreiche Reaktion auf die Covid-19-Krise. Fünf Dinge können und sollten wir von Taiwan lernen.

Keine perfekten Angebote – oder: Scheitern ist erlaubt

Ist Taiwan das perfekte Modell für eine digitale Demokratie unserer Zeit? Audrey Tang würde dem eher nicht zustimmen. Taiwan, so Tang, hat „kein perfektes Angebot“. Alle Mechanismen, die Taiwan benutzt und weiterentwickelt, werden ständig überprüft und angepasst. Taiwan ist damit kein Modell, das einfach kopiert werden kann und sollte, sondern vielmehr eine Idee, dass neue und bessere Ansätze, die gemeinsam entwickelt werden, ständig alte Ansätze, die ihren Zweck überlebt haben, ersetzen sollten.

Taiwan hat viele Erfolgsgeschichten für digitale Beteiligung zu bieten. Aber es gibt ebenso viele Projekte, die schief gingen. Dafür schämt sich die Digitalministerin nicht. Im Gegenteil: „Wir scheitern ständig und wir scheitern lautstark“.

Wäre so etwas von einer Ministerin in Europa zu hören? Eher nicht. Viele europäische Verwaltungen und Regierungen haben keine ausgeprägte Fehlerkultur. Fehler werden als etwas angesehen, was es um jeden Preis zu vermeiden gilt.

Internetzugang als Menschenrecht

Taiwans Regierung verstand von Anfang an, dass das Internet ein wichtiges Instrument zur Förderung von Demokratie und Wohlstand in Taiwan ist. Sie erkannte aber auch, dass für seine effektive Nutzung der Zugang zum Internet für alle, nicht nur für einen Teil der Bevölkerung, gewährleistet sein muss. Deshalb beschloss die Regierung 2017, den „Internetzugang als grundlegendes Menschenrecht“ einzufordern.

Infolgedessen rief die Regierung besondere Initiativen für abgelegene und benachteiligte Gruppen in Taiwan ins Leben. Dazu gehörten spezifische Projekte wie die Erhöhung der Internetqualität öffentlicher Gesundheitsämter und Kliniken in Randregionen, die Verbesserung des Breitbandzugangs für Menschen in ländlichen Gebieten und die Ermutigung aller Bürger, auf Breitbandverbindungen umzurüsten.

Effektive digitale Beteiligungsplattformen

Ein Schlüssel zu Audrey Tangs Arbeit als Ministerin war die Entwicklung von digitalen Beteiligungsplattformen, über die die Bürger:innen effektiv mit öffentlichen Amtsträgern in Kontakt treten und in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen werden können.

Kultur der Kunst, des Dialogs und der Bürgerbeteiligung. © Foto: Chang Zun Shi – Pixabay

Eine der frühesten und erfolgreichsten Plattformen ist vTaiwan. vTaiwan wurde als digitale Plattform entwickelt, die den Menschen die Möglichkeit bietet, Politik zu diskutieren und einen Konsens herzustellen, den die Regierung in Gesetze und Richtlinien umsetzen kann. Das Herzstück von vTaiwan ist ein Tool namens Pol.Is. Über Pol.Is kann jeder Interessierte Erklärungen dazu verfassen, wie ein politisches Problem gelöst werden sollte, und auf die Erklärungen anderer reagieren, indem man diese ablehnt oder ihnen zustimmt. Der Vorteil eines solchen Ansatzes besteht darin, dass er polarisierende Debatten vermeidet und die Menschen dazu zwingt über ihre eigene Meinung zu einem bestimmten Thema zu reflektieren. Das Ergebnis eines solchen Prozesses ist ein „grober Konsens“, eine allgemeine Übereinkunft aller Beteiligten. Auf dieser Grundlage erarbeiten Politiker und Experten gezielte politische Lösungen.

vTaiwan ist eine gemeinsame Anstrengung der Regierung und der Zivilgesellschaft. Ein anderes Schlüsselinstrument für die Bürgerbeteiligung, Join, wurde direkt vom Nationalen Entwicklungsrat der Regierung geschaffen. Join ist eine umfassende Plattform, auf der Bürger:innen offen mit verschiedenen Regierungsebenen interagieren können. Auf Join können Bürger:innen gleichzeitig: a) bestehende Politiken diskutieren, b) sich über die Regierungspolitik informieren und diese „überwachen“, c) neue Politiken durch Petitionen vorschlagen, die von der Regierung diskutiert werden müssen, wenn sie von 5000 oder mehr Personen unterstützt werden und d) den Leitern der Regierungsbehörden direkt Feedback geben.

Die Beteiligungszahlen sind enorm: Knapp die Hälfte der Bevölkerung Taiwans war bereits auf der Onlineplattform aktiv.

Oben und unten: Regierung und Zivilgesellschaft arbeiten zusammen

Taiwans Ansatz entledigte sich der Idee einer strikten Unterscheidung zwischen Regierung, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Bürgern. Er zielt vielmehr darauf ab, all diese Akteure zusammenzubringen, um gemeinsam innovative Politiken zu entwickeln. In jedem Ministerium gibt es Beteiligungsbeauftragte. Diese Beamten fungieren als Bindeglied zwischen den Bürgern und dem öffentlichen Sektor. Sie ermöglichen es, dass die Forderungen und Ideen der Bürger:innen von der Regierung und der Verwaltung wirksam und rechtzeitig gehört werden. Dadurch entsteht ein System, das in hohem Maße transparent ist und auf die Forderungen der Öffentlichkeit eingeht.

© Foto: Bertelsmann Stiftung

Jedes Jahr findet in Taiwan ein „präsidentieller Hackthon“ statt. Ziel des Hackthons, der heute ein internationaler Wettbewerb ist, ist es, innovative Ideen und Lösungen zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage offener Daten zu sammeln. Die Hackathons helfen nicht nur, innovative Ideen zu sammeln, sondern bieten auch eine wichtige Plattform für die Tech-Community und die Regierung in Taiwan, um miteinander in Kontakt zu treten und neue Wege zur Lösung wichtiger gesellschaftlicher Probleme zu erkunden.

Strategien brauchen Erfolge: Die Bekämpfung von Covid-19

Digitale Tools benötigen Akzeptanz in der Bevölkerung, Bürgerbeteiligung braucht Erfolge. Für beides ist die Bekämpfung der Corona-Krise ein gutes Beispiel.

So konnten beispielsweise Taiwans offenes und lebendiges soziales Netzwerk, das so genannte „PTT-Bulletin Board“, Nachrichten und Hinweise auf einen neuen und gefährlichen Virus in Wuhan bereits im Dezember 2019 aufgreifen und die Informationen effektiv an das taiwanesische Zentrum für Krankheitsbekämpfung weiterleiten. Auf der Grundlage dieser Informationen begann das Zentrum mit der Überprüfung aller ankommenden Flüge aus Wuhan und schuf mit Hilfe seiner Bürger ein kollektives Informationssystem für alle Bürger.

Da Taiwan sofort damit begann, Masken zu rationieren, wurde schnell eine App entwickelt, die den Menschen hilft Apotheken ausfindig zu machen die Masken vorrätig haben, so dass die gesamte Bevölkerung effektiv versorgt werden kann. Bis heute hält das Zentrum für Seuchenkontrolle täglich öffentliche Informationsveranstaltungen ab, die auf eigenen Recherchen und Informationen von Experten und Bürgern basieren.

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Die Wichtigkeit von Masken und Abstand halte wurde von Staatsseite aus über alle Medien und durch verschiedenste Kampagnen kommuniziert. In den sozialen Netzwerken nutzte Taiwan die Strategie „humor over rumor“ Humor vor Gerüchten, um über eingängige Memes und unterhaltend-informative Nachrichten die Bevölkerung aufzuklären. Masken und Abstand halten wurden so schon früh zu einem integralen Teil des öffentlichen Lebens, womit die Ausbreitung des Virus effektiv eingedämpft werden konnte. Des Weiteren wird in Taiwan über temporäre SIM Karten und Handyortung die Einhaltung häuslicher Quarantäne mit aktiver Unterstützung der gesamten Bevölkerung effektiv überwacht. Da in ganz Europa Datenschutz und Datensicherheit streng geregelt sind, wären solche Maßnahmen in den meisten Mitgliedsstaaten aber kaum umzusetzen.

In Europa wurden die Bürger:innen nicht in die Covid-19-Antwort ihres Landes einbezogen. Die Maßnahmen werden meist zwischen Experten und Politikern diskutiert. Bürger:innen warten auf Weisung von oben. In Taiwan hingegen haben sich Offenheit, Bürgerbeteiligung und die gemeinsame Suche nach Lösungen als ausgezeichnete Zutaten für eine effektive Covid-19-Reaktion erwiesen. Viele europäische Länder erleben jetzt die Gegenreaktion desorientierter und frustrierter Bürger:innen. In Taiwan ziehen Politik und Bürger:innen an einem Strang.

Ja, Europa kann eine Menge lernen.

Eine Video-Diskussion mit Audrey Tang (s.o.) und Taiwan’s Strategie zu Digitaler Demokratie finden Sie hier: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/demokratie-und-partizipation-in-europa/projektnachrichten/digitale-demokratie-was-europa-von-taiwan-lernen-kann-1

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