Technologische Innovationen bieten hierfür vielfältige Möglichkeiten – wie die Studie „Potenziale einer Pflege 4.0“ des Projekts „Demografieresilienz und Teilhabe“ der Bertelsmann Stiftung zeigt.
Körperliche und psychische Entlastung von Pflegenden, Verbesserung der Kommunikation und der Pflegequalität, effektivere und effizientere Arbeitsstrukturen – dies sind nur einige Effekte, die Pflegefachpersonen im In- und Ausland dem wirkungsvollen Technologieeinsatz zuschreiben. Das hat das Institut für Innovation und Technik für unser Projekt anhand von Interviews in sieben Pflegeeinrichtungen in Deutschland, Dänemark, den Niederlanden und Kanada ermittelt.
Die untersuchten Einrichtungen sehen sich selbst in Sachen Digitalisierung als „early adopter“ und können angesichts ihrer vielseitigen Erfahrungen bei der Techniknutzung als Vorreiter bzw. fortgeschritten eingestuft werden. Sie alle zeichnet aus, dass sie seit mindestens einem Jahr eine Vielzahl an Pflegetechnologien in den Pflegeprozess integrieren – von komplexen digitalen Dokumentationssystemen über verschiedene Sensorik, GPS-Technologien und Kommunikationssystemen bis hin zu einem Interaktionsroboter. Wir wollten von ihnen wissen, welche be- und entlastenden Effekte sich für Pflegende in der stationären Langzeitpflege durch den Technologieeinsatz ergeben können, was daraus für die Pflegequalität folgt und wie die Wirkungspotenziale in der deutschen Pflegepraxis künftig noch besser gehoben werden können.
Weniger Workflow-Unterbrechungen, mehr Zeit und ein besserer Informationsfluss dank mobiler digitaler Dokumentation
Die Pflegedokumentation ist zentraler Bestandteil des Pflegeprozesses. Hierbei werden unter anderem Daten der Pflegeempfangenden erfasst, pflegerische Maßnahmen geplant, überprüft und angepasst sowie Medikationspläne und Wundprotokolle erstellt. Früher wurde mit Stift und Papier dokumentiert, heute bildet die digitale Dokumentation auch mit weiteren Funktionen wie Überleitungsbogen das Kernstück der Digitalisierung in der Pflege und spielt auch in den sieben untersuchten Einrichtungen eine zentrale Rolle. Sie führt alle pflegerelevanten Informationen an einem Ort zusammen, verbessert dadurch den Informationsfluss im Team und fördert das wissensbasierte Handeln auf Grundlage aggregierter Daten. Darüber hinaus erleichtert sie den Informationsaustausch mit anderen pflege- und gesundheitsrelevanten Berufsgruppen.
Um Workflow-Unterbrechungen zu reduzieren, das Dokumentieren stärker in den Pflegeprozess zu integrieren und Zeit zu sparen, ist allerdings eine digitale Dokumentation mittels dezentral verteilter bzw. mobiler Endgeräte (etwa mit Tablets) unabdingbar. Denn erfolgt die digitale Dokumentation an stationären Computern, führt das in den untersuchten Fällen zu doppelten Dokumentationsstrukturen (d.h. zunächst mit Stift und Papier im Zimmer des Pflegeempfangenden, anschließend am Computer), Informationsverlusten und Belastungseffekten bei den befragten Pflegefachpersonen. In Deutschland liegt ein noch nicht gehobenes Potenzial in der einrichtungs- bzw. sektorenübergreifenden digitalen Dokumentation und Kooperation.
Anlassbezogenes Handeln statt Routinegänge: Sensorsysteme verringern physische und psychische Belastungen deutlich
Den Einsatz von Sensorsystemen – z.B. intelligente Böden, Betten, Inkontinenzmaterialien, GPS-basierte Warnsysteme – nehmen v.a. Pflegefachpersonen, die in der Nachtschicht tätig sind, körperlich als besonders entlastend wahr. Diese Technologien wirken präventiv und senden bei auffälligen Bewegungsmustern, Stürzen oder einem bestimmten Nässegrad Alarmsignale. Dadurch reduziert sich die Anzahl der Routinegänge und damit der Laufwege deutlich, die Pflege erfolgt eher anlassbezogen. Ein präventiver Alarm verringert zudem die Anzahl der Stürze und damit die Häufigkeit des schweren Hebens.
Auch psychische Belastungseffekte können durch Sensorik verringert werden. Diese entstehen etwa durch unplanmäßige Ereignisse, das Gefühl gehetzt zu sein oder „überall gleichzeitig“ sein zu müssen. Die Gewissheit, bei Auffälligkeiten oder Sturzunfällen ein Signal zu empfangen, reduziert diese Belastungseffekte spürbar und erhöht das Sicherheitsgefühl.
Technologien, wie z.B. Smart Glasses, ermöglichen die Abstimmung von Behandlungsentscheidungen gemeinsam mit Ärzt:innen etwa bei der Begutachtung von Wunden. Dadurch fühlen sich die befragten Pflegefachpersonen ebenfalls spürbar entlastet. Selbst wenn es durch sensorbasierte Alarmtechnologien häufiger zu Workflow-Unterbrechungen kommt, werden diese – sofern es sich nicht um wiederholte Fehlalarme handelt – nicht als belastend wahrgenommen: Der positive Effekt des Vorbeugens und das Gefühl „alles im Griff zu haben“ überwiegen.
Innovative Pflegetechnologien können die Beziehungen zu Pflegeempfangenden und die Qualität der Pflege* verbessern
Die Mehrheit der befragten Pflegefachpersonen sieht eine Verbesserung der Kommunikation und Kooperation mit Pflegeempfangenden durch Rufanlagen mit Freisprechfunktion und die mobile Dokumentation – sofern die Technik erklärt und in den gemeinsamen Dialog integriert wird. In den Niederlanden führt der Einsatz eines Kommunikationsroboters durch individuell einstellbare Module und an die jeweiligen Biografien angelehnte Inhalte dazu, dass die Pflegefachkraft mehr Informationen und ein ganzheitlicheres Bild von den Pflegeempfangenden erhält. Digitale Beschäftigungsangebote auf Tablets oder dem Smart-TV, IKT-Anwendungen oder der Kommunikationsroboter fördern zudem die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten der Pflegebedürftigen, das soziale Miteinander in der Gruppe sowie den Austausch mit Angehörigen und soziale Teilhabe.
Darüber hinaus tragen die im digitalen Dokumentationssystem aggregierten Daten dazu bei, die Pflegequalität und Patientensicherheit zu verbessern, unter anderem durch einen umfassenderen Blick auf die Pflegeempfangenden, das bessere Monitoring der pflegerischen Maßnahmen sowie das leichtere Einhalten von Leitlinien und Pflegezielen. Unterschiedliche Sensorsysteme zur Bewegungsanalyse oder GPS-basierte Warn- und Transpondersysteme verbessern die Mobilität der Pflegeempfangenden, da sie sich sicherer fühlen, sich mehr zutrauen und sich dadurch freier bewegen. Durch den Kommunikationsroboter sind die Pflegebedürftigen tagsüber aktiver und schlafen weniger, sodass die sonst benötigte Schlafmedikation reduziert werden kann.
Wirkungsvoll eingesetzte Pflegetechnologien können die Resilienz von Pflegeteams stärken.
Für einen Großteil der befragten Pflegefachkräfte erhöht der Technologieeinsatz das Sicherheitsempfinden. Das wirkt sich positiv auf die Arbeitszufriedenheit aus. Durch Fehlervermeidung, präventive Maßnahmen, verringerte Laufwege, schnelleres Dokumentieren und die einfachere Kommunikation ergeben sich zudem Effektivitäts- und Effizienzgewinne. In der Regel kommen zeitliche Einsparungen der Interaktionsarbeit mit den Pflegeempfangenden zugute, was ebenfalls die Zufriedenheit der Befragten erhöht. Als Metapher für ihre aktuelle Gesamtsituation, d.h. individuelles Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit, geben die Pflegefachkräfte überwiegend hohe „Akkufüllstände“ (im Durchschnitt ca. 85 %) an. Diese Aussagen stechen angesichts der im Pflegeberuf stark verbreiteten Überlastung hervor. In der Folge nimmt auch die Resilienz der Pflegeteams zu, sodass Mehrbelastungen in Ausnahmesituationen aufgefangen und Ausfallkaskaden vermieden werden können.
Voraussetzungen für den wirkungsvollen Technologieeinsatz
Die Entlastungspotenziale ergeben sich in den wenigsten Fällen nur aus den Technologien selbst. Vielmehr ist ein gelungenes Zusammenspiel aus Technik, partizipativer Einbindung der Pflegenden in den Auswahl- und Einführungsprozess, angepassten Arbeitsstrukturen und dem nötigen Know-how erforderlich, um ein wirkungsvolles sozio-technisches Arbeitssystem zu schaffen. Neben einem chancenorientierten „digitalen Mindset“ erfordert dies vor allem auch eine offene Fehlerkultur sowie ein hohes Maß an Wandlungsfähigkeit in den Organisations- und Arbeitsprozessen. Die frühzeitige Einbindung der Pflegenden und damit unterschiedlicher Perspektiven klärt die Erwartungen an die jeweilige Technik für alle Nutzer:innen und bewirkt eine größere Offenheit gegenüber den Technologien. So können auch Schulungsbedarfe frühzeitig identifiziert und adressiert sowie Rollenverteilungen ausgehandelt und angepasst werden. Die Befähigung der Pflegenden zum Umgang mit digitalen Technologien umfasst nicht nur das Erlernen der technischen Funktionen. Wichtig ist, dass die Pflegenden eine digitale Souveränität erlangen, sodass sie die Technologien handlungssicher und eigenverantwortlich anwenden können – entsprechend den Bedürfnissen der Pflegeempfangenden und den Zielen der pflegerischen Maßnahmen.
Um in Deutschland unterstützende Rahmenstrukturen zu schaffen, bedarf es erstens auf regionaler und überregionaler Ebene einer noch stärkeren Förderung von Netzwerken und fachlichen Anlaufstellen für den Austausch und nachhaltige Kooperationen zwischen Pflegepraxis, Herstellern und Forschung. So können auch kleinere Einrichtungen, die intern nicht über Innovationsabteilungen oder ähnliche Strukturen verfügen, bei der Recherche und Auswahl sowie der strategischen und operativen Umsetzung digitaler Technologien Unterstützung finden. Da die Pflegeeinrichtungen in Deutschland hinsichtlich des Technologieeinsatzes sehr unterschiedliche Entwicklungsstände aufweisen, ist zweitens eine niedrigschwellige und an den Bedürfnissen der Pflegepraxis orientierte Innovationsförderung nötig, die neben der Technik auch Anpassungen der Arbeitsorganisation berücksichtigt und in einem ganzheitlichen Sinne sozio-technisch innovative Pflegesettings stärkt. Deutschland hat in den vergangenen Jahren wichtige Forschungs- und Modellprojekte beim Technologieeinsatz angeschoben, die nach Ablauf der Förderung mangels Weiterfinanzierung jedoch vielfach nicht aufrechterhalten werden können. Um erfolgreiche Ansätze zu verstetigen, braucht es deshalb drittens im Rahmen der Regelstrukturen dauerhafte Refinanzierungsformen für eine Pflege 4.0.
* Die Effekte auf Pflegebedürftige und die Pflegequalität wurden in Proxi-Interviews mit den Pflegefachpersonen erhoben. Bewohner:innen der Einrichtungen konnten nicht befragt werden.
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