Wohin der Blick sich auch richtet, überall in der Welt wird derzeit das Thema Innovation diskutiert. Was verstehen Sie grundsätzlich unter diesem Begriff? Welche Rolle spielt Innovation in Ihrer Arbeit?
Jan Breitinger: In der Tat, das Thema drängt. Weltweit setzt sich langsam ein Konsens durch: Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Menschheit sind nicht mehr mit gängigen Technologien oder Denkweisen zu bewältigen. Es bedarf neuer Ansätze und Instrumente, um Herausforderungen wie den Klimawandel oder globale Pandemien zu überwinden. Als gemeinnützige Organisation betrachten wir Innovation in diesem Sinne als einen zentralen Hebel der Transformation hin zu Nachhaltigkeit. Es geht also nicht um Innovation per se, sondern um Innovation mit einer klaren Zielsetzung. Ein Beispiel: In Kanada basiert die AI-Strategie auch auf ethischen Normen und verbindet so Technologie und soziale Fragen. Durch unsere Arbeit möchten wir einen Beitrag dazu leisten, dass Innovation nicht nur als Treiber von Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch als Weg zu gesamtheitlicher Nachhaltigkeit gedacht wird. Und das ist kein Nice-to-have, sondern unerlässlich für unsere Gesellschaft und Wirtschaft.
Coryell Boffy: Wie Sie angedeutet haben, variieren die Definitionen von Innovation je nach Weltanschauung, geografischer Lage, Branche, Disziplin usw. stark. Die OECD hat meiner Meinung nach eine passende Definition, auch wenn sie sich etwas zu sehr auf die Märkte konzentriert und soziale Innovation in den Schatten stellt. Mein persönliches Verständnis des Begriffs Innovation ist, dass es sich dabei um die Wissenschaft oder Kunst handelt, Ideen effektiv in die reale Welt zu übertragen, und zwar auf eine Art und Weise, die als wertvoller empfunden wird als bisherige Wege.
Innovation hat sehr oft ein Element der Neuheit, auch wenn die Definition von Neuheit eine ganz andere Frage wäre. Was auf einem wissenschaftlichen Gebiet oder in einer Branche neu ist, kann in einer anderen als gängige Praxis gelten. Was heute eine neue gesellschaftliche Idee ist, kann in anderen Momenten der Geschichte die traditionelle Handlungslogik gewesen sein. Dennoch können diese „nicht ganz so neuen Ideen“ im heutigen Kontext oder in der Zukunft als äußerst nützlich angesehen werden.
Zusammengefasst denke ich, dass die drei wichtigsten Elemente für eine Innovation folgende sind:
- Eine Idee (unabhängig davon, woher sie stammt).
- Die Wahrnehmung eines größeren Mehrwerts.
- Die tatsächliche Verwertung dieser Idee durch Märkte, Interessengruppen oder der Zivilgesellschaft
Meine Arbeit bei Axelys konzentriert sich auf das Ermöglichen von Innovationen, die auf Ideen aus öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen in der kanadischen Provinz Québec basieren.
Wie wir diese Innovationen ermöglichen, hängt davon ab, wo sich unsere Partner befinden. Aus der Sicht der Forscher: Wir helfen, den potenziellen gesellschaftlichen Mehrwert (ökonomisch, sozial, ökologisch, kulturell usw.) ihrer Forschung zu realisieren. Aus der Sicht der Gesellschaft (Kommunen, Regierung, Patienten, Unternehmen usw.): Wir helfen dabei, gesellschaftliche oder unternehmerische Herausforderungen mit dem Wissen und der Expertise öffentlicher Forschungseinrichtungen zu identifizieren und idealerweise zu beantworten. Aus Sicht der Regierung: Wir stellen Instrumente und Finanzmittel zur Verfügung, um in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten die Hürden zwischen Idee und Umsetzung zu senken. Innovation steht im Mittelpunkt unserer Mission und wir versuchen, ein Gleichgewicht zwischen Push- und Pull-Ansätzen herzustellen, also zwischen ideengetriebenen und bedarfsorientierten Ansätzen.
Auf welche Weise fördern Ihre Organisationen Innovation?
Coryell Boffy: Viele Universitäten auf der ganzen Welt verfügen über Technologietransferbüros (TTOs), deren Ziel es ist, Forschung zu kommerzialisieren, wenn Potenzial für eine Kommerzialisierung besteht. Die kanadische Provinz Québec wollte eine ähnliche Agentur aufbauen, allerdings mit einem breiteren gesellschaftlichen Mehrwert und einem geografischen Rahmen. Die Provinzregierung investiert einen großen Teil ihres BIPs in die Forschungsförderung und suchte daher nach Möglichkeiten, die Rentabilität ihrer Forschungsinvestitionen zu erhöhen. Für die Stakeholder der Regierung hat der Begriff „Rendite“ eine weit gefasste Bedeutung, die soziale Erträge, Umweltverbesserungen, Entstehung von Kultur und natürlich eine Steigerung der Wirtschaftsleistung einschließt. Anstatt ausschließlich auf F&E-Kredite oder die Subventionierung universitärer TTOs zurückzugreifen, gründete die Provinzregierung Axelys, eine in der gesamten Provinz tätige, gemeinnützige Organisation. Ziel ist es, Innovationen auf Projektebene, auf institutioneller Ebene und auf der Ebene des provinzweiten Ökosystems zu fördern, um den Mehrwert von Innovationen der öffentlich finanzierten Forschung in all seinen Facetten und nicht nur in der ökonomischen Facette zu realisieren.
Wir sind dabei, ein Netzwerk von „Innovationsbrokern“ aufzubauen, die an Hochschulen und Kommunen in der ganzen Provinz angesiedelt sind und sowohl von der Forschungseinrichtung als auch von Axelys kofinanziert werden. Diese Broker arbeiten mit Forschern in den verschiedenen Einrichtungen zusammen, um Ideen mit Innovationspotenzial zu identifizieren. Axelys bewertet dann den potenziellen ökonomischen, sozialen und sonstigen Mehrwert dieser Ideen und erarbeitet eine konkrete Strategie, um den gesellschaftlichen Mehrwert zu realisieren. Dies kann durch die Verfeinerung einer Technologie oder eines nicht-technologischen Prozesses geschehen, durch die Unterstützung bei der Einbindung der richtigen Interessengruppen (Kunden, Begünstigte, Experten, gemeinnützige Organisationen usw.), durch die Unterstützung bei der Skalierung validierter Initiativen, durch die Unterstützung beim Aufbau der Projektleitung, wenn sich dies nicht von selbst ergibt, usw.
Unser Ziel ist es, essenzielle Unterstützung zu bieten, um den gesellschaftlichen Mehrwert vielversprechender Forschung zu fördern.
Jan Breitinger: In unseren Projekten legen wir derzeit einen Schwerpunkt auf die Förderung von Innovations- und Gründungsdynamik. In Studien eruieren wir Schwachpunkte des hiesigen Innovationssystems und erarbeiten gemeinsam mit Experten konkrete Reformvorschläge. Zum Beispiel haben wir in unserer Studienreihe „Innovation for Transformation“ weltweit nach fortschrittlichen Innovationspolitiken gesucht, so auch in Kanada. Ein weiteres wichtiges Element ist das sektorenübergreifende Zusammenbringen von Akteuren, die sonst eher nicht in den Austausch miteinander kämen. Das umfasst Politiker, Policy-Maker, Startups, Großunternehmen, Non-Profit-Organisationen und Wissenschaftler. Wir wollen die Idee der Missionsorientierung stärker im deutschen Innovationssystem verankern, also Innovationspolitik an konkreten gesellschaftlichen Bedürfnissen (Missionen) ausrichten. Hierfür initiieren wir beispielsweise Workshops, um erforderliche Anpassungen in der institutionellen Landschaft zu diskutieren.
Innovation entsteht durch Austausch über Sektorgrenzen hinweg. Wie können Ihrer Erfahrung nach Stakeholder aus verschiedenen Bereichen an Innovationsprozessen beteiligt werden und schlussendlich von diesen profitieren, sei es auf Produkt-, Dienstleistungs-, Prozess- oder gesellschaftlicher Ebene?
Coryell Boffy: Wenn wir über die Frage genau nachdenken, kann sie im Grunde umformuliert werden in: „Wie können wir Innovationsprozesse innovativ gestalten?“ Dies ist etwas, mit dem wir uns in Kanada und Deutschland sowohl auf der organisatorischen als auch auf der ökosystemischen Ebene intensiv beschäftigt haben. Es ist fast schon ironisch, dass sich die meisten Akteure auf die Verbesserung der technologischen Innovation konzentrieren, während die Sozialwissenschaften am ehesten in der Lage zu sein scheinen, diese Frage zu beantworten.
Die Pflege und der Ausbau einer Innovationskultur auf allen Ebenen der Gesellschaft und zwischen den verschiedenen Akteuren ist eine der besten Möglichkeiten, die wir bisher zur Förderung von Innovation gefunden haben. Eine Kultur, die die Durchlässigkeit zwischen Spezialisierungen ermöglicht, die den Mehrwert von Innovationen teilt, die kollektive Aktionen und spezifische Interessen belohnt. Das alles ist leichter gesagt als getan. Forscher werden in der Regel für ihre Forschungsergebnisse belohnt, Unternehmen werden fast ausschließlich für ihre wirtschaftliche Leistung gewürdigt. Und staatliche Institutionen werden oft zu streng nach ihrer operativen Leistung und nicht nach ihren Wirkungen auf die konkreten Zielgruppen oder die Gesellschaft bewertet. Dieser Impact führt in der Regel zu einem kollektiven Mehrwert. Dafür müssen die Interessen der Einzelnen in Einklang mit den intendierten gesellschaftlichen Wirkungen gebracht werden.
Wir erproben daher Initiativen, die sich auf die Überbrückung der Zwischenräume zwischen Innovationsakteuren, Programmen und Prozessen sowie der Finanzierung konzentrieren. Unser Ziel ist es, die Hindernisse für den Innovationsfluss zwischen den einzelnen „Säulen“ der Gesellschaft (Forschung, Zivilgesellschaft und Märkte, Finanzierungsinstitutionen usw.) zu verringern, Anreize für mehr Zusammenarbeit zu schaffen und Erfolge zu kommunizieren. Unsere Idee ist es, zur Nachahmung anzuregen und das Entstehen einer tief verwurzelten Innovationskultur zu fördern.
Ich glaube, dass auch die genannte Studienreihe der Bertelsmann Stiftung einige hervorragende Empfehlungen für die Förderung innovativer Innovationsökosysteme enthält. Besonders inspiriert waren wir von der Notwendigkeit, die üblichen Maßnahmen zur Förderung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit mit den gesellschaftlichen Herausforderungen zu verknüpfen. Nur dann könnten wir eine dauerhafte Innovationskultur erreichen.
Jan Breitinger: Dem stimme ich zu: Innovation entsteht durch Perspektivenvielfalt. Doch in der Realität agieren viele Akteure eher getrennt voneinander. Gerade Akteure aus der Zivilgesellschaft werden oft nicht einbezogen. In der Konsequenz entstehen zwar neue Produkte und Dienstleistungen, diese stillen jedoch nicht unbedingt ein drängendes Bedürfnis. Denken Sie beispielsweise an die vielen Apps, die nur der Bequemlichkeit dienen. Die Technologien und Algorithmen dahinter könnte man auch für Ideen nutzen, die einen größeren gesellschaftlichen Mehrwert stiften.
Warum gibt es so einen Mismatch zwischen dem, was Innovationen erschaffen, und dem, was wir brauchen, um eine nachhaltige Wirtschaftsordnung aufzubauen? Ein Teil der Antwort lautet: Weil zu wenig Verzahnung zwischen Forschung, Privatsektor, öffentlichem Sektor und Zivilgesellschaft herrscht.
Wenn wir die Perspektiven zusammenbringen, können bessere Innovationen entstehen und alle von der Wertschöpfung profitieren. Nachhaltige Mobilität in Großstädten, Homeschooling-Lösungen in Pandemiezeiten, grüne Energie – diese Themen berühren so viele Lebensbereiche, dass man sie nur gemeinsam gestalten kann. Dafür braucht es mehr sektorenübergreifende Austauschformate oder auch Experimentierräume, in denen unterschiedliche Stakeholder über Probleme und Lösungen nachdenken. Aus unserer Sicht gibt es hierfür herausragende Modelle in Kanada, wie etwa das Mila in Montreal.
Was können Sie in Ihrem Arbeitsbereich von Kanada bzw. Deutschland lernen? Wie könnte der German Canadian Concourse (GCC) Ihre zukünftigen Bemühungen um eine Ausweitung Ihrer Aktivitäten und Kooperationen mit Deutschland oder Kanada unterstützen?
Coryell Boffy: Deutschland verfügt über ein hervorragendes Bildungs- und Forschungssystem, das es gewohnt ist, mit der Industrie zusammenzuarbeiten. So ist beispielsweise das duale Ausbildungssystem tief verwurzelt und ermöglicht die Zusammenführung von theoretischen Ideen, die im akademischen Kontext entwickelt wurden, mit der pragmatischen Realität des Arbeitsplatzes. Da es sich bei den Akteuren auf der theoretischen und der realen „Plattform“ um ein und dieselbe Person handelt, wird die Konzentration auf Ideen und deren gleichzeitige Anwendung von den Einzelnen verinnerlicht, was zu einer Innovationskultur in Deutschland beiträgt. Ein weiterer interessanter Punkt, der uns bei der Betrachtung der Innovationstradition in Deutschland auffiel, war die historische Bedeutung, die den sozialen und geistigen Aspekten der Wissensvermittlung in der Ausbildung beigemessen wird. Kanada könnte definitiv von Deutschlands langer Geschichte bei der Vermittlung gesellschaftlicher Normen lernen und darauf aufbauen, um eine „Innovationskultur“ zu fördern, sei es im Handwerk, in der Forschung, in Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Kommunen und der Regierung.
Wir hoffen, dass der GCC auch weiterhin als Akzelerator fungiert, bei dem Innovationsfachleute und Innovationsbegeisterte Ideen und Werte austauschen können, um die Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks und darüber hinaus zu verbessern.
Jan Breitinger: Bei allen Schwachpunkten muss betont werden, dass in Deutschland viel und erfolgreich innoviert wird. Gerade die Ingenieurswissenschaften oder der deutsche Maschinenbau haben viel Knowhow zu bieten. Auch beim Thema Industrietechnik 4.0 herrscht kein Stillstand. Gleichzeitig besteht ein gewisser Mangel an der Verbindung von Technologie, Innovation und gesellschaftlichem Fortschritt. Kanada erscheint in diesem Kontext progressiver, wie sich zum Beispiel an der „Montreal Declaration for a Responsible Development of AI“ zeigt. In unseren Recherchen fiel uns auch immer wieder die Interdisziplinarität und Diversität in kanadischen Institutionen wie CIFAR und Mila auf. Daran könnte man sich in Deutschland etwas abschauen. Auch wird es spannend sein zu sehen, wie man die kürzlich angekündigte Innovationsagentur in Kanada aufbauen wird. In Deutschland gibt es mit der DATI ein ähnliches Vorhaben, und ein Austausch hierzu könnte sich lohnen.
Raum für bilaterale Zusammenarbeit gibt es zudem genug. Sowohl Kanada als auch Deutschland (und Europa) wollen sich technologisch weiterentwickeln und müssen sich gegenüber Wettbewerbern wie China und den USA behaupten. Gemeinsam könnte man einen „third way“ beschreiten, der technologische und soziale Innovationen komplementär verbindet und sich von den Wirtschafts- und Gesellschaftsmodellen wie in China oder den USA unterscheidet. Eine Organisation wie der GCC könnte dabei die wichtige Rolle des Brückenbauers zwischen den Kontinenten und verschiedenen Sektoren übernehmen.
Das Interview führte der German Canadian Concourse und ist im englischen Original hier abrufbar.
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