Prof. Volker M. Banholzer
21. Januar 2022

Die Innovationspolitik der Ampel-Koalition für das Innovationsland Deutschland

Der Koalitionsvertrag der neuen Regierung legt einen Schwerpunkt auf Forschung, Innovation und Wissenschaftstransfer. Die ersten operativen Schritte und Regierungsgeschäfte unterstreichen diesen Eindruck. Mit neuen Instrumenten wie etwa der zu gründenden Deutschen Agentur für Transformation und Innovation (DATI) sind Impulse für einen Richtungswechsel zu erkennen. Angesichts der großen Herausforderungen braucht es eine F&I-Politik, die Innovation als sowohl Technologie als auch das Soziale umfassend begreift und als strategisches Politikfeld bearbeiten will.

„Deutschland ist Innovationsland.“ So zumindest die knappe Feststellung des Koalitionsvertrags der neuen Regierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zu Beginn des Abschnitts „Innovation, Wissenschaft, Hochschule und Forschung“. Die neue Regierungskoalition kommt damit dem Innovationsimperativ, das sowohl für Wirtschaft, Technologie, aber eben auch für Politik gilt, augenscheinlich nach – zumindest verbal. Denn: Spitzentechnologie erleidet in Deutschland seit Jahrzehnten einen Abstieg, wie das Handelsblatt kürzlich mit Blick auf den Export von High-Tech-Produkten aus Deutschland bilanziert. Vor der neuen Regierung liegen damit Herausforderungen, die sich nicht in Digitalisierung und Forschungsanreizen erschöpfen, sondern die eine Neuorientierung sowohl in den Politikfeldern von Forschung und Innovation (F&I) als auch im Politikstil erfordert.

Die neuen Partner hatten bereits im Wahlkampf ein „Innovationsfreiheitsgesetz“ gefordert, auf die „Entfesselung der Innovationskraft der Sozialen Marktwirtschaft“ gesetzt oder mit Anträgen in der vorhergegangenen Legislaturperiode neue Instrumente für den Wissens- und Forschungstransfer, die Gründerkultur, die Start-up- und Innovationsfinanzierung sowie die parlamentarische Technikfolgenabschätzung eingefordert. Der neuen Regierung hatte auch die EFI Expertenkommission in ihrem Jahresgutachten 2021 mit auf den Weg gegeben, sie müsse „einen kohärenten Politikansatz“ verfolgen, „der den gesamten Innovationsprozess – von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung – in den Blick nimmt und dem sich alle Ressorts verpflichtet fühlen“.

Klar ist, dass ein Koalitionsvertrag nicht alle Details künftiger Politiken regeln kann. So fehlen einige der in den jeweiligen Wahlprogrammen der jetzigen Koalitionsparteien gesetzten Themen, wie die Weiterentwicklung des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag. Zudem sind Absprachen in Koalitionsverträgen nicht einklagbar und bedürfen der Aktualisierung und Anpassung im Laufe der Regierungsarbeit. Trotzdem haben solche Verträge angesichts heterogenerer Regierungsbündnisse an Bedeutung gewonnen, weshalb eine Analyse Aufschluss über die zu erwartende Regierungsarbeit geben kann, aber auch potenzielle Konfliktlinien hervortreten lässt. Letzteres kann hier aber nicht vertieft werden. Nachfolgend werden die Inhalte zur F&I-Politik des Koalitionsvertrages unter den Aspekten „Holistischer Innovationsansatz“, „Innovationssouveränität“ und „strategische Innovationspolitik“ betrachtet.

Holistischer Innovationsansatz

Unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ treffen die Koalitionspartner SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP Absprachen über Politikfelder und Politikinhalte. Mit Blick auf Forschungs- und Innovationspolitik hat vielleicht zunächst überrascht, dass kein eigenständiges Digitalministerium entstanden ist. Das Verkehrsministerium wird durch die Zuständigkeit für Digitales allerdings deutlich aufgewertet. Vor allem bemerkenswert erscheint aber, dass der Bereich F&I erkennbar die Handschrift der beiden Koalitionäre Bündnis 90/Die Grünen und FDP trägt. Deutlich wird dies in der Gründung einer Innovationsagentur DATI (Deutsche Agentur für Transfer und Innovation), die als Fusion der Vorschläge einer Deutschen Transfergesellschaft (FDP) und einer Transformationsagentur D.Innova (Bündnis 90/Die Grünen) zu sehen ist, und die in diesem Zusammenhang zentralen Ausführungen zu Reallaboren und Experimentierräumen. Die neue Innovationsagentur DATI ist eine wichtige und notwendige Ergänzung zur Agentur für Sprunginnovationen Sprin-D, weil sie neben der Förderung von technischen Innovationen auch die gesellschaftlichen Wechselwirkungen mit ihnen sowie soziale Innovationen aufgreifen kann. DATI kann sowohl die im deutschen Innovationssystem bislang vakante Position einer Transferagentur füllen als auch die Third Mission von Hochschulen für angewandte Wissenschaften, die Verbindung zum Mittelstand und die Stützung von Clustern und Regionen vorantreiben. „Transformation Enabler“ zeichnen sich dadurch aus, dass hier Industrien und Unternehmen bzw. Start‐ups auch außerhalb der Fokusbranchen eingebunden werden und diese über einen langen Zeitraum hinweg Entwicklungen verfolgen, verbessern oder verwerfen können. Ergänzt wird DATI durch die Einrichtung von Reallaboren als zeitlich und räumlich begrenzte Experimentierräume für die Erprobung von Innovationen. Zudem sollen um Leuchtturmprojekte herum Innovationsregionen definiert werden. Die Debatten um Zuständigkeiten für die Agentur Sprin-D oder deren Flexibilität unmittelbar vor dem Wahltermin zeigen aber, welche Hürden überwunden werden müssen. Sowohl BMWi als auch BMBF sind für Sprin-D zuständig. Die Gründung von DATI bietet hier die Chance, um bessere Rahmenbedingungen sowohl für technische als auch soziale Innovationen zu schaffen, aber auch die wichtigen Themen Innovationskommunikation, Transparenz und Partizipation in die F&I-Politik integrieren zu können. Allein dieses Beispiel zeigt, dass eine zukunftsfähige F&I-Politik zwangsläufig eine langfristige, ressortübergreifend über Grenzen von Politikfeldern und -ebenen hinwegwirkende und technologische und soziale Innovationen umfassende Politik benötigt – einen holistischen Ansatz von Innovation, wie es einige skandinavische Länder bereits praktizieren.

Innovationssouveränität

Diesem holistischen Ansatz entspricht auch die Überlegung, nicht nur digitale Souveränität oder Technologiesouveränität als Zielvorgabe zu benennen, wie es die Koalitionäre tun. Als Ziel der „Politik in einer Innovationsgesellschaft“ oder in den Worten des Koalitionsvertrages, für ein „Innovationsland“, sollte vielmehr das Erreichen einer Innovationssouveränität formuliert werden. Innovationssouveränität wird so verstanden, dass ein Staat die Basis für Innovation und Fortschritt derart gestaltet, dass sie zum Erhalt und zur Weiterentwicklung seiner hoheitlichen Aufgaben, zur Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse sowie zur Herstellung und Sicherung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit beiträgt. Das Versprechen des Koalitionsvertrages, den Standort Deutschland als Innovationsland in ein „Innovationsjahrzehnt“ zu führen, hängt auch davon ab, wie tief das Verständnis von den Entstehens‐ und Erfolgsbedingungen von Innovationsökosystemen in der F&I‐Politik ist und wie dieses in konkrete politische Maßnahmen umgesetzt werden kann.

Ein grundlegender Punkt, der auch in der aktuellen Corona-Bekämpfung deutlich zutage tritt, ist die geringe Verfügbarkeit und Güte von Daten. Der Wissenschaft stehen in Deutschland zu wenige Daten zur Verfügung, wie auch Rüdiger Bachmann, Andreas Peichl und Regina T. Riphahn jüngst in einem Gastbeitrag für die FAZ kritisieren. Daten sind Material für Forschungsvorhaben, aber eben auch eine der notwendigen Voraussetzungen für die Evaluation von politischen Maßnahmen. Das Problem soll nach dem Willen der neuen Koalition mit einem Forschungsdatengesetz verbessert oder gelöst werden. Zudem soll ein europäischer Forschungsdatenraum gefördert werden. Dazu möchten die Koalitionsparteien die bestehende Forschungsdateninfrastruktur in Deutschland weiterentwickeln, aber auch einen Europäischen Forschungsdatenraum vorantreiben, in dem Daten für die Forschung geteilt werden können, wenn diese vollständig anonymisiert und nicht personenbezogen sind. Vor allem Start‐ups und KMUs sollen einen besseren Zugang zu Daten und damit zu digitalen Geschäftsmodellen erhalten. Dazu soll ein Dateninstitut die Verfügbarkeit und die Standardisierung von Daten weiterentwickeln. Der Rechtsanspruch auf Open Data und ein Datengesetz sollen parallel zu einem europäischen Datenschutz den Rahmen bilden.

Auch das Beispiel der Forschungsdaten mit seinen Implikationen der Datensouveränität der Bürger:innen oder des Datenschutzes zeigt die Auswirkung von Technologien und Forschung auf andere Bereiche der Gesellschaft sowie die Verflechtung von Politikfeldern und Politikebenen. Die reine Orientierung an Technologie- oder Datensouveränität wie im Koalitionsvertrag festgehalten greift als Ansatz zu kurz. Das politische Denken muss sich an einem Ziel der Innovationssouveränität orientieren, woraus sich dann Strategien ableiten lassen, die eine kohärente F&I-Politik ermöglichen.

Strategische Innovationspolitik

Die Koalition betont, die Innovations‐, Investitions‐ und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie stärken zu wollen, um „weiter Hochtechnologieland bleiben zu können“. Auch die Vorgängerregierungen haben mit der High-Tech-Strategie, der Wasserstoffstrategie, der nationalen Wasserstrategie oder der Industriestrategie nationale Pakete präsentiert. Alleine am Beispiel Industrie 4.0 wird aber deutlich, dass Strategiepapiere alleine nicht hinreichend sind. Das Feld Industrie 4.0 wurde in der zurückliegenden Regierungsperiode wenig abgestimmt und kohärent von BMBF und BMWi verantwortet, trotz der Tatsache, dass die jeweilige Leitung von derselben Partei gestellt wurde. Die internationale Bedeutung von Technologien stellt weitere Anforderungen an eine kohärente und holistische F&I-Politik.

© Winfried Wend, Fotoblend auf pixabay

Trotz der vor allem nationalen Ausrichtung konkreter Projekte erwähnt der Koalitionsvertrag der Ampelkoalitionäre oft und ausdrücklich die Bedeutung Europas. Die Ampel-Koalition hat die Aufgaben der Bewältigung der Klimakrise und die Ausrichtung an den Nachhaltigkeitszielen sowie den Zielen der EU als Missionsorientierung für ihre Politik als Rahmen gesetzt. Eine Industrie-, eine Energie- oder eine Daten- und Digitalstrategie ist einerseits abhängig von Rahmensetzungen der EU und hat andererseits Einfluss auf die auswärtige Politik. Die Ampel-Koalition wird nicht umhinkommen, neben den auf den Standort Deutschland fokussierten Politiken auch eine Strategie für eine Technologieaußenpolitik zu entwerfen und gerade hier mehrere Ressorts zusammenzubringen. Dazu gehört ein tiefgreifendes Verständnis des Technologiesektors und seiner Verflechtungen ebenso wie die Bereitschaft, Prioritäten zu setzen und die damit verbundenen politischen Kosten zu tragen. Im Koalitionsvertrag ist die Stärkung von strategischen Technologiefeldern, sogenannten IPCEI Important Projects of Common European Interest, benannt. Die EU‐Innovationspolitik hat mit den Konzepten „Green Deal“, „Industry 5.0“, den SDGs und der Missionsorientierung einen Rahmen gesetzt, dem die Ampel‐Koalition auch Rechnung tragen muss. In diesen Kontext fallen wie skizziert wesentliche Bereiche der F&I‐Politik bzw. deren Implikationen. Die Missionen, an denen sich Politik allgemein und auch F&I‐Politik speziell auszurichten hat, müssen von der Koalition ressortübergreifend definiert und konsistent kommuniziert werden.

Fazit

Von der neuen Regierung wird wie ausgeführt eine integrierte und ressortübergreifende Politik in zentralen Politikfeldern gefordert sein. Im Koalitionsvertrag unterstreichen die Partner der neuen Regierung, dass der Staat vorausschauend für seine Bürger:innen arbeiten muss. Das setzt sowohl Foresight-Fähigkeiten voraus als auch die Fähigkeit und Bereitschaft zur Kommunikation und Diskussion soziotechnischer Zukünfte. Bei der Analyse der F&I-Politik in den Wahlprogrammen 2021, aber auch in den Wahlprüfsteinen von Interessenverbänden und Organisationen wurde deutlich: Der Bedarf nach Diskursen, Transparenz, Partizipation, Agilität, wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Politikberatung und Think-Tanks ist überall Thema. Hierfür bieten die im Koalitionsvertrag benannten Organisationen wie die Agentur DATI oder die Reallabore einen guten Anknüpfungspunkt, die aber weiter ausgestaltet werden müssen. Wichtig ist vor diesem Hintergrund, das Experimentelle, die Agilität und die Individualisierung – als Kernelemente technologischer Regierungskonzeption – so auszugestalten, dass Tendenzen der Entpolitisierung nicht Vorschub geleistet, sondern gleichzeitig Bürgerdialog und wissenschaftliche Politikberatung sichergestellt werden. Im Koalitionsvertrag ist der Wille erkennbar, Politik insgesamt agiler, flexibler und auch experimenteller und lernbereiter zu gestalten. Das Gelingen gerade in volatilen Umwelten ist davon abhängig, welcher normative Konsens jenseits des abstrakten Bekenntnisses zu Fortschritt und Innovation die Koalition trägt und in schwierigen Entscheidungssituationen zusammenhält.

Der Beitrag fasst wesentliche Punkte des IKOM-WorkingPapers „‘Fortschrittskoalition‘ der 20. Legislaturperiode. Aspekte der Forschungs- und Innovationspolitik im Koalitionsvertrag der Parteien SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP.“ zusammen.

 

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