Das Jahr 2020 scheint der Krisen nicht müde zu werden. Nach den Buschbränden in Australien, dem endgültigen Ausstieg Großbritanniens aus der EU und den Heuschreckenplagen über Ostafrika erschüttert seit Monaten die Corona-Pandemie die Welt. Neben den zahllosen Menschenleben, die diese Krisen des Jahres 2020 bereits gekostet haben, trifft Corona vor allem auch die Wirtschaft. Eifrig wird nun über Zukunftsszenarien diskutiert: Zur Debatte stehen das „L“, das „W“, das „U“ und das „V“. Diese Buchstaben werden verwendet, um den möglichen Verlauf der Wirtschaft nach der Corona-Krise zu beschreiben – mit allen dazugehörigen gesellschaftlichen Folgen.
Das L-Szenario geht davon aus, dass es nach einem rasanten Abschwung der Wirtschaft vorerst keinen Aufschwung gibt, die Kurve nach dem Abfall also bis auf Weiteres geradlinig verlaufen wird. Das W-Szenario beschreibt nach dem Abschwung ein Auf und Ab der Wirtschaftslage, bis sich die Konjunktur wieder auf einen Aufwärtstrend einstellt. Das U-Szenario rechnet zwar mit einem Aufschwung, geht aber auch davon aus, dass die Wirtschaft zuvor eine längere Talfahrt erleben wird. Das V-Szenario hingegen erwartet nach dem rasanten Abschwung durch die Corona-Krise ein kurzes Tief und anschließend einen rasanten Aufschwung der Wirtschaft.
Trübe Aussichten: Das L-Szenario
In der Öffentlichkeit wird derzeit besonders häufig das L-Szenario prophezeit. Denn durch die Corona-Krise droht ein enormes Unternehmenssterben. Obwohl die Läden wieder öffnen dürfen, verläuft das Geschäft nach der Wiederöffnung bisweilen nur schleppend. Das betrifft auch Nachwuchsfirmen. Laut Bundesverband Deutsche Startups sind 90 Prozent der deutschen Unternehmensgründungen von der Corona-Krise betroffen. 70 Prozent stehen sogar vor einem möglichen Aus. Besonders dramatisch daran ist, dass gerade Startups nach der Krise durch ihre Innovationen für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft sorgen könnten. Sollte in Deutschland ein großes Startup-Sterben stattfinden, verlöre die Bundesrepublik einen erheblichen Anteil ihrer Innovationsstärke.
Einige Akteure setzen deshalb große Hoffnung auf einen Boom in der deutschen Digitalwirtschaft. Denn der digitale Raum wird derzeit mehr genutzt als je zuvor. So berechnen der Branchenverband eco und die Unternehmensberatung Arthur D. Little einen Zuwachs der deutschen Internetbranche um 9,5 Prozent pro Jahr bis 2025. Doch dieses Wachstum könne nur erreicht werden, wenn Deutschland gezielt in entsprechende Startups investiere, meint Thomas Jarzombek, Bundestagsabgeordneter und Beauftragter des Bundeswirtschaftsministeriums für die Digitale Wirtschaft und Start-ups. Gegenüber dem Kurier erinnert er daran, dass die Plattformen, die in Corona-Zeiten für die digitale Kommunikation genutzt werden, hauptsächlich in den Vereinigten Staaten sitzen, so z.B. Skype und Zoom. Während das Silicon Valley also profitiert, könnten große Teile der deutschen Digitalwirtschaft durch fehlende Finanzierungsmöglichkeiten leer ausgehen. Doch selbst in den USA würde die Internet- und Digitalwirtschaft aus Sicht des Magazins MIT Technology Review nicht ausreichen, um die Wirtschaft auf Kurs zu halten. Denn am produzierenden Gewerbe und Dienstleistungssektor hängt nach wie vor die große Mehrheit der Arbeitsplätze und Infrastrukturen.
Obwohl Innovationen in Deutschland gerade während der Krise dringend notwendig wären, stockt der Markt. Laut Digitalverband Bitkom haben während der Krise bereits 39 Prozent der ITK-Unternehmen wegen finanzieller Engpässe geplante Investitionsprojekte verschoben. Eine Innovationsflaute bahnt sich an. Da Deutschland damit auch für die Zeit nach der Krise die Perspektive zum Aufschwung verlieren könnte, sehen viele Experten die hiesige Wirtschaftsentwicklung vor einem L-Verlauf. Allein für das Jahr 2020 rechnet der Internationale Währungsfonds in Europa mit einem Wirtschaftseinbruch von 7,5 Prozent. Mit Blick auf die Erfahrungswerte aus der Wirtschaftskrise 2008 ist das nachvollziehbar. So haben z.B. die USA nach der letzten großen Finanzkrise nie wieder zu jenem Wirtschaftswachstum zurückgefunden, welches das Land vor der Krise verzeichnete. Die Furcht vor dem „L“ ist damit legitim. Denn gemessen an der Corona-Krise war der Konjunktureinbruch von 2008 höchstens ein kleiner Ausrutscher in der Weltwirtschaftsgeschichte.
Der große Aufschwung: Hoffnung auf das „V“
Es gibt allerdings auch eine ganze Reihe an Akteuren aus der Wirtschaftsszene, die die Corona-Krise als Chance für den großen Aufschwung sehen. Das V-Szenario wird in diesen Reihen nicht ausgeschlossen – ganz im Gegenteil. Denn gerade im Wirtschaftsraum der EU bestehe ein besonders hohes Potenzial für bahnbrechende Innovationen. Zum einen ist die europäische Forschungslandschaft sehr gut ausgebaut und der daraus hervorgehende Talente-Pool riesig. So kann die EU auf 1,3 Millionen mehr Software-Entwickler zurückgreifen als die USA. Bislang wurde dieses Potenzial nur unzureichend genutzt, was auch erklärt, warum Deutschlands Digitalbranche in Corona-Zeiten im Vergleich zu den USA oder China blass aussieht. Denn in Deutschland und der EU hakt es bei der Umsetzung wissenschaftlicher Expertise in neue Technologien und Geschäftsmodelle. Gerade darin sehen nun aber viele Experten die große Chance für Deutschland und die EU. Experten wie Rafael Laguna von der deutschen Innovationsagentur SprinD, die Founders Foundation, das BCG Henderson Institute oder auch das Zukunftsinstitut erwarten im Zuge der Corona-Krise einen großen Digitalisierungsschub und damit einhergehend neue Innovationssprünge.
Auch das DIW Berlin erinnert daran, dass durch die Corona-Pandemie kein Wegfall von Knowhow oder Fachkräften entsteht. Dort, wo durch die Krise nun Mängel in der deutschen Infrastruktur deutlich werden, kann also gezielt nachgearbeitet werden. Die Expertenkommission Forschung und Innovation der deutschen Bundesregierung (EFI) rechnet deshalb mit einem Abbau bürokratischer Hürden auf Verwaltungsebene, schnelleren Genehmigungsverfahren und einer insgesamt effizienteren Wirtschaft nach der Corona-Krise. Auch in Unternehmen selbst wird nun deutlich, wo im Sinne einer resilienten und wettbewerbsfähigen Aufstellung Verbesserungen erfolgen müssen. Gleichzeitig sei, vor allem in KMU, ein großer Kompetenzgewinn zu verzeichnen, meint Rapahel Laguna von SprinD gegenüber Deutschlandradio. Schließlich seien diese dazu genötigt, sich in kürzester Zeit Wissen über digitale Kommunikation und Krisenstrategien anzueignen. Das neue Knowhow könnte nach der Krise zu einer erhöhten Produktivität und Innovationsfähigkeit von Unternehmen führen.
Auch das Handelsblatt sieht eine Chance, die Corona-Krise zu einem „kleinen V“ werden zu lassen, wenn konsequent gezielte wirtschaftspolitische Maßnahmen ergriffen werden. Mit Blick auf die größten Wirtschaftskrisen der Vergangenheit ist ein V-Szenario tatsächlich nicht abwegig. In den letzten drei europäischen Rezessionen (1972, 1992, 2008) ist der private Verbrauch gemessen am BIP laut McKinsey im ersten Jahr nach der Krise jeweils um ein bis 2,5 Prozent gestiegen, was nach den Krisen zu einem Wirtschaftswachstum von 2,2 bis 4,6 Prozent führte. Die Kurven des Wirtschaftswachstums der vergangenen Krisen sprechen für sich: Sie alle zeichnen sich als „V“.
Krisen als Zeit der Visionäre
Das liegt nicht zuletzt daran, dass Krisen auch immer Zeiten für Vordenker sind. Das BCG Henderson Institute etwa verweist unter diesem Aspekt auf den Zweiten Weltkrieg. Hier gab es z.B. große Fortschritte im Arbeitsrecht für Frauen und Innovationssprünge in Luft- und Raumfahrt. Eine Krise sei nicht zuletzt immer auch eine Zeit der Visionäre, meint auch das Zukunftsinstitut. Denn durch den erhöhten Wettbewerbsdruck in Krisenzeiten müssen Unternehmen sich durch neue Geschäftsmodelle, Innovationen und kreative Umbrüche auf dem Markt beweisen und sich neu an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientieren.
Diese Bedürfnisse haben sich zuletzt auch immer wieder in Form von Forderungen nach mehr Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit gezeigt. Die Süddeutsche Zeitung merkt an, dass schon nach der Finanzkrise 2008 die Frage aufkam, ob die Wirtschaft ausreichend dem Menschen diene. Diese Frage wiederhole sich nun. McKinsey steuert bei, dass es bereits viele Innovationen im Bereich Nachhaltigkeit und Klima gebe, die noch nicht auf dem Markt vertreten sind, weil es ein zu großes Risiko und fehlende finanzielle Förderung gebe. Zu großen Teilen stimmen Vertreter aus Wirtschaft und Medien mit den Forderungen nach einer sozialeren und nachhaltigeren Wirtschaft überein. Anstöße hierfür gibt es beispielsweise vom Zukunftsinstitut, vom BCG Henderson Institute, der Frankfurter Rundschau und von Autoren der Polit-Nachrichtenseite Project Syndicate. Die Forderungen nach einer Innovationspolitik, die zuvorderst der Gesellschaft dient, werden zunehmend lauter.
Vorsicht vor dem „W“ durch ungesteuerte Förderung
Eine gezieltere Innovationspolitik könnte auch dafür sorgen, die bislang ungenutzten Potenziale in Deutschland und der EU auszuschöpfen, um so die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu steigern. Hierfür fordern Institutionen wie der Bundesverband Deutsche Startups oder Bitkom eine gezielte staatliche Unterstützung zukunftsträchtiger und innovativer Unternehmen. Auch Bundesforschungsministerin Anja Karliczek möchte in Zukunft mehr auf Innovationen setzen.
Nicht aber dürfe eine solche Politik zu einer Wettbewerbsverzerrung durch die dauerhafte staatliche Förderung einheimischer Unternehmen sein, wie es etwa in China nach der Finanzkrise 2008 der Fall war, mahnt die WirtschaftsWoche. Denn eine solche Taktik führe auf lange Sicht zu einer Staatswirtschaft und damit zu einem Produktivitätsrückgang. Ungesteuerte und uneingeschränkte Förderungen würden das Ziel einer innovations- und wettbewerbsstarken Wirtschaftslandschaft verfehlen. So stieg das chinesische Wirtschaftswachstum nach der Weltfinanzkrise 2008 zwar rapide an, flachte daraufhin aber auch wieder ab. Seit Kurzem nimmt es wieder zu. Durch eine wettbewerbsmanipulierende und nicht-zielgerichtete Förderung von Unternehmen könnte sich auch in Deutschland ein solcher W-Verlauf des Wirtschaftswachstums abzeichnen.
Ohne verbesserte Rahmenbedingungen droht das „U“
Bereits lange vor der Krise hatte sich in der deutschen Wirtschaft aber bereits eine Rezession angebahnt. So verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren deutlich. Im Jahr 2019 betrug es nur noch 0,6 Prozent. Aus diesem moderaten Abwärtsflug könnte nun ein steiler Aufwärtstrend werden. Insgesamt scheinen viele Akteure der Wirtschaft realistische Chancen zur Realisierung des V-Szenarios zu sehen.
Damit sich die Kurve aber nicht zu einem „U“ entwickelt, müssen die richtigen politischen Rahmenbedingungen gesetzt werden und die staatlichen Investitionen gezielt in innovationsfähige Nachwuchsunternehmen mit zukunftsträchtigen Geschäftsmodellen wandern. Der derzeit stattfindende Digitalisierungs- und Produktivitätsschub in den Unternehmen reicht nicht aus. Der Aufschwung erfordert eine zielgerichtete und nachhaltige Innovationspolitik, die sich für den Abbau bürokratischer Innovationshürden einsetzt, gezielt in bedürfnisorientierte Innovationen investiert und so die Ausschöpfung des Innovationspotenzials in Deutschland und Europa fördert, meinen auch Experten wie Mariana Mazzucato vom University College London und Vertreter von Institutionen wie dem DIW Berlin, dem Bundesverband Deutsche Startups oder dem Handelsblatt.
Wenn Politik und Wirtschaft zielgerichtet handeln, könnte die Corona-Krise den Wendepunkt zu einer nachhaltigen, gerechteren und stärkeren Wirtschaft bilden. Ob sich die Kurve der europäischen und deutschen Wirtschaftsentwicklung in Zukunft als „L“, „V“, „W“ oder „U“ zeichnet, steht und fällt nun also mit der Innovationspolitik.
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