Joseph Chan, unsplash

Wir Kinder sollten es mal besser haben

Unser Autor wird den Tag, an dem er die Eltern seiner Ehefrau kennenlernte, nie vergessen. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass diese Erfahrung so prägend für seine Karriere werden würde.

Ich ahnte, dass ich bei meinen zukünftigen Schwiegereltern auf Unverständnis stoßen würde. Die Werte und Überzeugungen ihrer Generation stimmten nicht immer mit meinen überein. Emels Vater, ein Mann mit einem ruhigen und bedachten Auftreten, legte großen Wert darauf, dass ich studiert hatte. Seine Erwartungen schienen klar definiert zu sein.

Als ich erklärte, dass ich mich selbstständig machte und Nachhilfe für Kinder gab, obwohl ich ein Studium abgeschlossen hatte, konnte ich die leichte Enttäuschung in seinen Augen erkennen. „Warum arbeitest du nicht in einer namhaften Firma?“ Diese Frage klang nach einem Hauch von Unverständnis.

In diesem Moment wurde mir klar, dass hinter dieser Frage eine tiefe Überzeugung steckte. Eine Generation, die oft Jahrzehnte in Schichtarbeit verbracht hatte, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Der Drang nach Sicherheit und Stabilität, der meinen Schwiegervater antrieb, war Teil von ihm selbst geworden. Seine Hoffnung und seine Vision waren klar: Seine Tochter, Emel, sollte es besser haben.

Aber was ist „besser“?

Diese Frage begleitete mich, als ich Emels Eltern besser kennenlernte. Sie waren hart arbeitende Menschen, aber keine Akademiker. Dennoch hegten sie einen enormen Respekt gegenüber Menschen mit einem Studium. Ihre ehrliche Arbeitsethik und ihr Respekt gegenüber Menschen mit höherer Bildung kamen mir bekannt vor. Denn diese Erwartungen wurden auch in meiner Familie gelebt und prägten meine Erziehung.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich ein Schülerpraktikum in der Druckerei absolvierte, wo meine Mutter arbeitete. Sie hat mir damals bereits gezeigt, dass ich nicht zur „Arbeiterklasse“ gehörte. Sie wünschte mir, dass ich eines Tages auch in der Geschäftsführung sitzen und nicht würde schuften müssen.

Diese Erinnerungen und die Gespräche mit Emels Eltern haben mir verdeutlicht, wie stark Stereotypen und Erwartungshaltungen uns beeinflussen können. Heute können meine Frau und ich sagen, dass uns ihr Respekt vor Bildung dazu inspirierte, unseren eigenen Weg zu gehen, auch wenn er nicht immer leicht war und sie sich etwas anderes für uns gewünscht haben. Unsere Geschichte ist nicht nur eine persönliche Anekdote, sondern ein Spiegelbild vieler Migrantenfamilien.

Die Sehnsucht nach mehr

Heute blicken Emel und ich stolz auf unseren gemeinsamen Weg zurück. Seit 2019 bin ich Geschäftsführer des Nachhilfe-Instituts Nachhilfe-Helden. Im November 2022 gründete ich gemeinsam mit meinem Co-Founder, Bulut Alkis, die Prozessplattform Our Smart Town. Mit unserem BuT-Navigator (Bildung- und Teilhabe) ermöglichen wir sozioökonomisch benachteiligten Familien den Zugang zur geförderten Nachhilfe, um eine gleichberechtigte Bildungswelt zu stärken.

Bereits in dieser Zeit war meine Frau eine große Unterstützung, bis sie selbst eine innere Sehnsucht nach mehr spürte. Nachdem Emel jahrelang in einem sicheren Job gearbeitet hatte und inspiriert von den Geschichten anderer Unternehmer:innen war, wagte sie den Sprung und gründete 2023 ihr eigenes Start-up. Mit e-dress, der Fashion Rental Service-Plattform, ermöglicht sie es Menschen, hochwertige Designerkleider und -taschen für einen bestimmten Zeitraum zu mieten und vereint damit Nachhaltigkeit und Mode.

Trotzdem gibt es nach wie vor Höhen und Tiefen, Momente der Unsicherheit und der Zweifel. Doch in solchen Momenten erinnern wir uns an die Geschichten unserer Eltern. Ihre unermüdliche Arbeit ist unsere Inspiration, weiterzumachen.

Meine Frau und ich glauben fest daran, dass Menschen mit Migrationshintergrund Vorbilder sind – sei es im Unternehmertum, in der Politik oder in anderen gesellschaftlichen Rollen.

Darum wollen wir alle ermutigen, sich zu engagieren, zu gründen und eine Stimme in der Gesellschaft zu haben. Denn unsere Vielfalt ist unsere Stärke und unsere Geschichten sind das Fundament für eine Zukunft, die von Respekt, Inspiration und Chancengerechtigkeit geprägt ist.

Unsere Geschichte soll zeigen, dass es möglich ist, die Erwartungen zu übertreffen und sich selbst zu verwirklichen, auch wenn die Wege nicht vorgezeichnet sind. Wir alle haben das Potenzial, etwas Großes zu erreichen, unabhängig von unserer Herkunft oder unserem beruflichen Hintergrund.

 

Kommentar verfassen