Es ist eine aufrüttelnde Zahl: Nach Berechnungen eines Forscherteams unter der Leitung von Robert Costanza aus dem Jahr 2007 beläuft sich der Wert der natürlichen Dienstleistungen, die der Menschheit kostenlos zur Verfügung gestellt werden – wie etwa die Sonnenenergie – auf 125 bis 145 Billionen Dollar pro Jahr. Nur zum Vergleich: Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt das weltweite BIP 2019 auf rund 87 Billionen US-Dollar.
Dieses Gedankenexperiment ist nur einer von vielen Denkanstößen, mit denen Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, ihre Leser:innen dazu bringen will, ihre Sicht auf das Verhältnis von Ökologie und Gesellschaft zu überdenken und ihr wirtschaftliches Weltbild neu zu justieren. In ihrem Bestseller „Unsere Welt neu denken“ lädt sie zu einem konstruktiven Dialog darüber ein, wie wir ein nachhaltigeres Wirtschaftssystem aufbauen können.
Ein hocheffizientes Wirtschaftssystem mit gefährlichen Defekten
Die Autorin gibt dabei offen zu, dass das von ihr angesprochene Problem nicht neu ist: Unser derzeitiges Wirtschaftssystem ist nicht nachhaltig, da es auf Kosten unserer natürlichen Ressourcen geht. Oder, wie sie es selbst treffend formuliert: „Wirtschaftswachstum in seiner heutigen Form heißt Klimawandel.“
Göpel vergleicht unsere heutige Wirtschaftsweise mit einem gigantischen globalen Fließband, das Ressourcen und Energie in Güter verwandelt. Dieses Fließband leidet jedoch an zwei großen Mängeln: Erstens ist es physisch ineffizient, da es zu viele Ressourcen verbraucht und zu viel Abfall und Kohlenstoffemissionen produziert. Zweitens ist es sozial ineffektiv, da es nicht jeden mit den Gütern versorgt, die er oder sie wirklich braucht.
Eine fehlerhafte wirtschaftliche Denkweise
Ihrer Ansicht nach liegt die Ursache für diese defekte Maschine darin, dass sie auf der Grundlage einer fehlerhaften wirtschaftlichen Denkweise entwickelt wurde: Das letztendliche Ziel der Güterproduktion ist nicht die Befriedigung wichtiger Bedürfnisse (wie genügend Nahrung oder Kleidung), sondern finanzieller Gewinn. Infolgedessen ist unsere wirtschaftliche Logik zugunsten von privaten Profiten verzerrt und vernachlässigt systematisch ökologische und soziale Kosten.
Es ist dieser sehr grundlegende Ansatz, der Maja Göpels Buch so streitbar wie auch zeitlos aktuell macht. Obwohl es kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie geschrieben wurde, wirft es einige der Kernfragen auf, die die Krise in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt hat: Setzen wir die richtigen wirtschaftlichen Prioritäten? Von welchen Produkten sind wir abhängig? Wie können wir durch Veränderungen zu einem weniger krisenanfälligen Wirtschafts- oder Sozialsystem gelangen? Und: Wo müssen technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationen vor allem ansetzen, um die Defizite unserer Wirtschaftsweise zu überwinden?
Die Natur als Blaupause für eine widerstandsfähigere Wirtschaft?
Für Maja Göpel besteht die Lösung darin, nach vorne gerichtet und ganzheitlich zu denken: „Für mich liegt die Formel darin, dass wir aus der Zukunft denken. Und systemisch.“ Die Natur kann dabei eine Blaupause für eine widerstandsfähigere und krisensichere Wirtschaft liefern. Denn eines ihrer zentralen Merkmale ist die systemische Effizienz.
Anstatt zu versuchen, die Effizienz einzelner Produktionsschritte zu maximieren und dabei die Kosten für Gesellschaft und Umwelt außer Acht zu lassen, sollten wir alle tatsächlichen Kosten internalisieren. Ein weiterer grundlegender Schlüssel zum Erfolg in der Natur ist Diversifizierung. Die Anwendung dieses Konzepts auf die Wirtschaft bedeutet: Anstatt alles und jedes an einen einzigen Standard oder eine einzige Produktionsweise anzupassen oder sich auf nur einen Lieferanten von wichtigen Zwischenprodukten zu verlassen, ist es besser, gezielt Alternativen aufzubauen und zu schützen.
Neue Ideen für eine unumgängliche Debatte
Maja Göpel stellt gleich mehrere Ideen vor, wie diese eher abstrakte Vision in konkrete Realität umgesetzt werden könnte. CO2-Tracker und digitale Markierungen für Ressourcen und Zwischenprodukte könnten ein wichtiger Schritt in Richtung Versorgungssicherheit sein. Die Einführung eines effektiven Preises für CO2-Emissionen würde energieeffiziente und kohlenstoffarme Ansätze unterstützen und von der Nutzung fossiler Brennstoffe oder unnötigen Flügen abhalten.
Eine progressive Besteuerung und aktualisierte Wettbewerbsgesetze könnten übermäßige finanzielle Gewinne begrenzen. Ein „Earth Atmospheric Trust“ könnte die Einnahmen aus einem globalen Cap-and-Trade-System sammeln und zur Finanzierung von Pro-Kopf-Zahlungen verwenden, die den Ärmsten der Menschheit helfen oder innovative Technologien finanzieren.
Innovation breit denken
Maja Göpel sieht dabei die Technologie als wichtigen Verbündeten für eine nachhaltigere Wirtschaft. Gleichzeitig warnt sie aber davor, sie mit einer Wunderwaffe zur Lösung der Klimakrise und anderer notwendigen Veränderungen gleichzusetzen. Ihr wesentliches Argument ist dabei ökonomisch: der Jevons- oder Rebound-Effekt. Er besagt, dass eine effizientere Nutzung von Ressourcen nicht automatisch Ressourceneinsparungen auslöst. Stattdessen kann sie genau den gegenteiligen Effekt haben, indem sie die Nachfrage nach Produkten erhöht, die auf der neuen Technologie beruhen.
Anstatt die Technologie lediglich dazu zu nutzen, die derzeitigen Geschäftsmodelle nur auf noch profitablere Weise fortzusetzen, sollte der technologische Fortschritt in den Dienst wichtiger gesellschaftlicher Ziele gestellt werden – was auch eine der wichtigsten Empfehlungen aus unserer kürzlich veröffentliche Studie über die Entwicklung von Weltklassepatenten ist. Auch für den aktuellen Reinhard Mohn Preis gehört diese Frage ins Zentrum der Debatte: „Wie können technologische Neuerungen zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen?“
Im jüngsten Diskussionspapier des Projekts Global Economic Dynamics betrachten wir die Corona-Krise als eine potenzielle Chance für eine ressourceneffizientere Weltwirtschaft. In diesem Papier gehen wir ein wenig tiefer auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Nutzung natürlicher Ressourcen ein und legen einige Ideen vor, wie der Preis für Kohlenstoffemissionen erhöht und die öffentliche Finanzierung kohlenstoffarmer Technologien verbessert werden kann – zwei wichtige Schritte in Richtung einer nachhaltigen Wirtschaftsweise.
Ich würde dem Fließband vielleicht noch einen dritten Punkt zuschreiben. Es ist asozial, weil es die Natur und die schwächsten Gesellschaftsschichten und globalen Regionen die externalisierten Kosten tragen lässt.
Sind alle Kosten internalisiert entsteht neben einer korrekteren Bepreisung der Güter auch eine Transparenz für die Konsumenten, anhand derer viel zielgerichteter ökologisch konsumiert werden kann.
Ohne diese Transparenz kann der Konsument seiner Verantwortung nicht gerecht werden. Mit ihr jedoch werden die Mechanismen der „schöpferischen Zerstörung“ unterstützt und so der notwendige Wandel hin zu einer ökologisch verträglichen Wirtschaftsform beschleunigt.