Meine Eltern erzählen immer noch liebend gern die Geschichte, wie ich schon im Vorschulalter am Strand von Dänemark 0-8-15-Muscheln gesammelt habe und hinterher vor unserem Wohnwagen saß, um diese zu verkaufen. Gut, der Business Case war vielleicht nicht ganz durchdacht, aber immerhin kaufte mein Vater mir die Muscheln nach ein paar Stunden aus Mitleid ab. Auf dem alljährlichen Kinderflohmarkt hatte ich großen Spaß daran, knallhart über die Preise für meine aussortierten Spielsachen zu verhandeln. Beim Weltspartag, auf den mein Geburtstag fällt, wurde jedes Jahr mein Sparschwein geschlachtet – damals gab es schließlich noch Zinsen aufs Sparbuch. Aber dann hört es auch schon auf mit meinen Berührungspunkten zum Thema „Unternehmerisches Denken“.
Aufgewachsen in einer Kleinstadt in Ostwestfalen, war ich die Erste in meiner Familie, die aufs Gymnasium ging. „Arbeiterkind“ – das bin ich also. Obwohl ich diesen Begriff erst so viel später überhaupt kennengelernt habe. Denn je höher ich die Karriereleiter hochklettere, die mir meine LinkedIn-Timeline täglich als Nonplusultra predigt, desto mehr wird mir bewusst, dass die soziale Herkunft einen deutlichen Unterschied macht. Damals sind mir solche Unterschiede nie aufgefallen, denn ich hatte eine wunderbare Kindheit und bin insbesondere meiner Mutter unglaublich dankbar, dass sie sich so viele Jahre dafür aufgeopfert hat, mir und meiner jüngeren Schwester mit stundenlangem Singen, Vorlesen und Basteln die beste frühkindliche Förderung zu ermöglichen, die man sich nur vorstellen kann.
„Den hat mir mein Papa von einer Geschäftsreise nach Singapur mitgebracht“, war der Kommentar einer Mitschülerin, als ich einen der allerersten iPods bewunderte, den sie stolz im Klassenzimmer präsentierte. Ich hatte keine Ahnung, wo Singapur war. Genauso wenig hatte ich aber auch eine Ahnung, wo Kassel war. Was ich aber wusste: Wenn mein Vater ab und an dort auf Tagung war, bewahrte er uns jedes Mal sein Lunch-Paket auf, auf das wir uns schon riesig freuten. Etwa zur selben Zeit, als ich erstmals einen iPod in der Hand hielt, wurde mir unterbewusst klar, dass ich mehr werde leisten müssen als viele andere, um gewisse Ziele zu erreichen.
Zeitungsbote, Nachhilfstunden und Fernweh
Mit dem Unterrichtsstoff konnte mir zu Hause schon lange niemand mehr helfen. Sachbücher, Ratgeber oder überregionale Tageszeitungen gab es bei uns nicht. Politiker:innen, Unternehmer:innen und Geschäftsführer:innen waren „die da oben“. Dass manche Eltern mehrere tausend Euro für ein High School Year bezahlten, war für meine Familie nicht nur schlicht nicht machbar, sondern auch überflüssig. Als ich dreizehn Jahre alt war, durfte ich endlich arbeiten. Mehrmals die Woche verteilte ich Zeitungen und Prospekte, begann zusätzlich, Nachhilfe zu geben – und sparte fast alles davon für meinen großen Traum vom Ausland. Durchschnittlich fünf Euro pro Stunde. Nachdem ich bereits Stipendienprogramme recherchiert und Bewerbungsschreiben verfasst hatte, kam alles anders.
Denn kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag lernte ich zufällig einen Menschen kennen, der mein ganzes Leben ändern sollte. In meiner damals noch streng regulierten „Internetzeit“ (wer jetzt an dieser Stelle schmunzelt, weiß noch, wie nervig es war, erst sicherzustellen, dass niemand telefonieren musste, um dann ein gefühltes Vermögen für dreißig Minuten Internet zu bezahlen…) hatte ich in einem der ersten Chaträume jemanden aus der Kleinstadt nebenan kennengelernt. Was mir am meisten imponierte war nicht etwa, dass er gerade achtzehn war und mich mit seinem eigenen Auto abholen konnte. Auch nicht, dass er völlig legal Alkohol einkaufen konnte und mit seinen Freund:innen in die Disko kam. Das, was mich faszinierte, war die Tatsache, dass er als Erstsemester-Student mehrmals pro Woche mit dem Zug in die (für mich damals metropolenartige) Großstadt Bielefeld fuhr und im Anschluss als Kleinunternehmer Computer reparierte und zu seinen Kund:innen brachte.
Und so kam es also, dass ich meine großen Auslandspläne auf „nach dem Abi“ vertagte, um mir für sein Unternehmen Marketing-Kampagnen zu überlegen, in der Nachbarschaft Flyer in Briefkästen zu stecken und in der Fußgängerzone Luftballons zu verteilen. Ich sah die Bielefelder Universität von innen, spielte in der ein oder anderen BWL-Vorlesung Mäuschen, organisierte mir ein einmonatiges Praktikum samt Gastfamilie in Frankreich und lernte nach und nach eine vollkommen andere Welt kennen. Am Esstisch der Familie meines Freundes wurde lautstark und leidenschaftlich über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft diskutiert. Was mich anfangs total überforderte, riss mich schnell in seinen Bann: Ich engagierte mich einige Jahre in der Politik und bewarb mich auf den Vorschlag meiner Sozialwissenschafts-Lehrerin um einen Platz beim Economic Summer Camp in Bielefeld. Mein Freund fuhr mich zum Assessment Center, fieberte mit und tröstete mich anschließend, als ich mir sicher war, dass mein Jeans-T-Shirt-Outfit zwischen den ganzen Anzug- und Kostüm-Träger:innen ganz sicher zum Aus geführt hatte.
Auch die Welt besser machen
Ein paar Wochen später bekam ich die Rückmeldung, dass man sich für mich entschieden hatte. Offensichtlich hatte ich mit meinen Antworten auf die vielen Fragen so sehr punkten können, dass es keine Rolle mehr spielte, dass ich keinerlei Ahnung hatte, was genau ein Assessment Center eigentlich war und wie man sich für so etwas kleidete. Während des Economic Summer Camps besuchten wir Teilnehmer:innen unter anderem Vorlesungen der FHM Bielefeld, waren zu Gast in namhaften ostwestfälischen Unternehmen und bei Kamingesprächen mit regionalen Unternehmerpersönlichkeiten.
So sehr mich das alles faszinierte, stand mein Plan fest, den ich schon seit der Grundschule hatte: Ich wollte Lehrerin werden. Ich wollte die Welt sehen. Ich wollte Sprachen lernen. Ich wollte dazu beitragen, junge Menschen auf ihrem Weg zu begleiten. Also studierte ich Französisch und Spanisch auf Lehramt und sah mich nach wie vor nicht als jemand, der das Zeug zur Unternehmerin hat. Dafür fehlten mir einfach die Vorbilder aus „meiner“ Welt. Wie sollte denn jemand wie ich ein Unternehmen gründen und von anderen Unternehmer:innen ernst genommen werden? Ich hatte keinerlei Vitamin B, kein Netzwerk, keinen Stallgeruch, das „falsche“ Parteibuch – und fühlte mich ziemlich häufig als Eindringling in dieser für mich komplett fremden Welt.
Es dauerte noch einige Jahre sowie Auslands- und Lebenserfahrungen, bis ich den Mut fand, mein eigenes Ding zu machen. Ich war inzwischen in meinem Studium und mehreren Praxisphasen im In- und Ausland zu der Überzeugung gekommen, dass mich das Schulsystem voraussichtlich kaputtmachen würde. Als ENFP-Persönlichkeit nach Myers-Briggs kann ich Dinge, die man besser machen könnte, nicht einfach so stehen lassen, sondern überlege konstant, wie man die Welt zumindest ein kleines bisschen gerechter machen könnte. So habe ich dann irgendwann für mich beschlossen, dass ich nicht Teil des Systems sein möchte, sondern lieber „von außen“ daran arbeite, es zukunftsfähig zu machen. Nachdem ich ein paar Jahre freiberuflich als Deutschlehrerin gearbeitet habe, bin ich seit 2019 Geschäftsführende Gesellschafterin der Deutschfuchs Gesellschaft für digitalen Unterricht mbH, mit der wir eine Lernplattform für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache entwickelt haben.
„Mir hat auch keiner was geschenkt.“
Und was ist aus dem ominösen Freund geworden? Nun: Er heißt Simon und ich habe ihn vor inzwischen fast zehn Jahren geheiratet. Nachdem ich ihm neben meinem Studium geholfen habe, sein IT-Systemhaus in Bielefeld aufzubauen und gewinnbringend zu verkaufen, haben wir gemeinsam die Welt erkundet und über neue Geschäftsideen nachgedacht. Während wir gegrübelt haben, ist uns die Idee zu unserem Startup letztendlich ganz einfach gekommen, weil ich mich in meinem Arbeitsalltag als Deutschlehrerin so oft darüber geärgert habe, dass es keine vernünftigen digitalen Unterrichtsmaterialien gab. Und nun, fünf Jahre später, haben wir ein tolles Produkt, eine eigenfinanzierte Firma, ein festes Team aus dreizehn Personen – und ich bin allmählich an dem Punkt, an dem ich mich selbst auch wirklich als Unternehmerin bezeichnen kann. Und ganz ehrlich: Ich könnte mir trotz aller Höhen und Tiefen und der vielen Verantwortung nichts anderes mehr vorstellen.
Im Zusammenhang mit der Frage nach sozialem Aufstieg höre ich einen Satz immer und immer wieder: „Mir hat ja auch keiner was geschenkt.“ Von denen, die aufgrund ihres Elternhauses vielleicht bessere Startbedingungen hatten als andere und sich ihrer Privilegien oft gar nicht bewusst sind. Genauso aber auch von Aufsteiger:innen, die sich alles hart erarbeitet haben. Das Thema scheint nicht sonderlich sexy zu sein und viele möchten auch überhaupt nicht darüber sprechen. Ich finde es aber sehr wichtig, darüber zu sprechen, weshalb ich mich neben meiner Arbeit in der Bildungsbranche auch ehrenamtlich im Netzwerk Chancen engagiere. Nein, mir hat vielleicht auch keiner was geschenkt. Alles, was ich heute habe, habe ich mir selbst hart erarbeitet. Aber das ist für mich kein Grund, es anderen nicht auch gönnen zu können und meinen Platz am Tisch nicht teilen zu wollen.
Ja, sozialer Aufstieg kann gelingen, wenn man extrem resilient ist, nach einer Niederlage immer wieder aufsteht und weiterkämpft. Sehr häufig ist er aber auch davon abhängig, ob man an einer Stelle im Leben Glück hat und Menschen trifft, die einen auf dem eigenen Weg unterstützen. Vielleicht war es Glück, dass mein fünfzehnjähriges Ich zur richtigen Zeit im richtigen Chatraum war. Vielleicht war es Glück, dass meine SoWi-Lehrerin den Bewerbungsaufruf für das Economic Summer Camp in der Zeitung gelesen und mir gegeben hat. Vielleicht war es Glück, dass der Weltmarktführer unserer Branche uns schon entdeckt und als Kooperationspartner auserkoren hat, als wir gerade mal unseren MVP präsentieren konnten. Aber vielleicht habe ich auch einfach gelernt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, Gelegenheiten zu erkennen, wenn sie sich zeigen – und sie zu ergreifen.
Und genau das würde ich mir für unser Schulsystem wünschen, um Chancengerechtigkeit im Hinblick auf sozialen Aufstieg zu fördern: dass jungen Menschen Möglichkeiten aufgezeigt werden. Dass es nicht immer nur darum geht, einer Norm entsprechen zu müssen und zu fokussieren, was man alles noch nicht kann. Sondern darum, eigene Stärken und Interessen zu entdecken. Dass das Thema Berufsorientierung in der Schule endlich professionell angegangen wird und dass auch Jugendliche schon wissen, dass die Berufswahl heutzutage keine Einbahnstraße mehr sein muss, sondern man sich jederzeit weiterentwickeln und neue Wege gehen kann. Aber auch, dass alle Berufe, die einen Mehrwert für unsere Gesellschaft bieten, gleichermaßen wertgeschätzt werden – und nicht nur die, die Teil meiner LinkedIn-Timeline sind.
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