Die Erfindung des Rads, des Buchdrucks, der Dampfmaschine – die Geschichte hält viele Beispiele für Sprunginnovationen bereit, Erfindungen also, die radikale Veränderungen für Gesellschaften und Volkswirtschaften mit sich brachten. Auch der jüngste Fortschritt um die mRNA-Technologie zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie verspricht Sprunginnovationspotential, zeichnet sich doch ab, dass das Verfahren gänzlich neue Ansätze zur Krankheitsbekämpfung liefert und damit enorme Beiträge für Wirtschaft und Gesellschaft leisten kann. Angesichts dieser faszinierenden Exempel und ihrer disruptiven Kraft verwundert es nicht, dass die Frage, wie man derlei bahnbrechende Erfindungen zielgerichtet fördern kann, auch heutzutage in der Innovationspolitik intensiv diskutiert wird. Die Motivationslagen sind dabei vielfältig: Unternehmen reizen die großen wirtschaftlichen Potenziale, Start-ups versprechen sich Fördergelder für risikoreiche Projekte, die Politik erhofft sich schnelle Lösungen für Herausforderungen wie den Klimawandel. Und mit Blick auf die deutsche (und europäische) Innovationslandschaft stellt sich die essenzielle Frage, wie sich statt kleinschrittiger Verbesserungen wirklich grundlegende Neuerungen initiieren lassen – und wie man den Rückstand bei relevanten Zukunftstechnologien aufholen kann.
Die Gründung von SPRIN-D ist vielversprechend – doch auch die strukturellen Rahmenbedingungen müssen verbessert werden
Zweifellos verfügt das deutsche Innovationssystem über große Stärken und zeichnet sich unter anderem durch hohe wissenschaftliche und technologische Kompetenzen aus – sowohl in der Grundlagenforschung als auch in der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung. Demgegenüber steht jedoch eine starke Pfadabhängigkeit in der Technologieentwicklung: Zentrale Branchen wie der Maschinenbau oder die Automobilindustrie optimieren bislang eher inkrementell, anstatt radikal neue Produkte und Märkte zu erschaffen. Daraus resultieren Beharrungstendenzen mit starkem Fokus auf etablierte Themenfelder.
Nun muss man anerkennen, dass sich zur Überwindung dieser Hindernisse derzeit einiges tut. Ausdruck davon, dass die Relevanz von Sprunginnovationen erkannt wurde, war zum Beispiel die Gründung der Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen SPRIN-D im Jahr 2019. Auch wenn es für ein Zwischenfazit noch zu früh ist, lässt sich bereits festhalten, dass ein solches Agenturmodell immer nur einen Baustein darstellt, um Sprunginnovationen zu fördern. Daneben bedarf es insbesondere einer besseren Vernetzung existierender institutioneller Strukturen zur Innovationsförderung und deren stärkerer Ausrichtung auf die Hervorbringung von Sprunginnovationen. Wesentliche Elemente, die zur Entstehung von Sprunginnovationen und potenziell auch zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen beitragen könnten, sind langfristige Förderhorizonte für Entwicklungsvorhaben, offene Innovationsprozesse und -systeme sowie eine stärkere Wagnis-, Risiko- und Gründungskultur
Beispiele aus den USA, Israel und Japan geben Orientierung
Aufgrund der mit Sprunginnovationen verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potenziale, gewinnt deren Förderung in einer Vielzahl von Ländern zunehmend an Bedeutung. Institutionen und Mechanismen, die bei der Weiterentwicklung der bisherigen Förderstrukturen in Deutschland als Vorbilder dienen können, finden sich beispielsweise in den USA, in Israel und Japan. Eine der bekanntesten Institutionen der Sprunginnovationsförderung ist die seit den 1950er Jahren aktive US-amerikanische DARPA, die entscheidend an der Erfindung des Internets und der GPS-Technologie beteiligt war und auch der deutschen Agentur als Vorbild diente. Im innovationsstarken Israel spielt die Israel Innovation Authority (IIA) bei der Förderung disruptiver Innovationen eine wichtige Rolle; Schwerpunkte liegen dabei auf der Vernetzungsarbeit von Akteuren, der Stärkung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit durch technologische Innovationen sowie auf der Entwicklung gesellschaftlich relevanter Neuerungen. In Japan wurde mit dem ImPACT-Programm (Impulsing Paradigm Change through Disruptive Technologies Program) ein eigenes Programm aufgelegt, dass sich durch eine deutliche Orientierung an konkreten Nachfragebedürfnissen und eine themenoffene, flexible Projektförderung auszeichnet. Allen Modellen sind eine hohe Risikoaffinität, starke Interdisziplinarität und weitreichende Kompetenzen der durchführenden Instanzen gemeinsam.
Ausgehend von diesen Länderbeispielen und aufbauend auf bestehenden Analysen des hiesigen Innovationssystems lassen sich unter anderem folgende Impulse für den deutschen Kontext anführen:
Gesellschaftlicher Nutzen: Staatliche Fördermaßnahmen sollten Bezüge zu gesellschaftlicher Problemlösung bevorzugt berücksichtigen und bewusst hochriskante Projekte mit transformativem Potenzial unterstützen. Als Leitplanken könnten die SDGs oder auch nationale Missionen dienen – ohne jedoch starre Lösungswege vorzugeben.
Forschungs- und Innovationsförderung: Die Länderbeispiele zeigen, dass explizit die Anwendungsseite berücksichtigt werden muss – Fördermaßnahmen dürfen nicht bei der Marktumsetzung abbrechen. Hierfür sollte man Förderzeiträume verlängern (deutlich über die üblichen Förderhorizonte von zwei bis drei Jahren hinaus), gesetzliche Ermessensspielräume für Experimente schaffen und die Rolle des Staates als Nachfrager von Innovationen stärken. Auch könnten bei der Projektförderung Kriterien wie Marktakzeptanz oder das Aufbrechen von Pfadabhängigkeiten vermehrt beachtet werden.
Das Wissenschaftssystem ist in Deutschland nicht darauf ausgelegt, (missionsorientierte) Sprunginnovationen hervorzubringen. Hierfür bräuchte es mehr Anreize für inter- und transdisziplinäre Forschung (im Wissenschaftssystem und darüber hinaus). Angeraten wären zudem bessere Freistellungsmöglichkeiten für Forschende sowie eine Minimierung vertraglicher Befristungen in der Wissenschaft, um die Attraktivität beruflicher Tätigkeiten in (radikalen) Entwicklungsvorhaben zu erhöhen. Vorbildhaft sind die Ansätze der DARPA und von ImPACT, wo Forschende aus unterschiedlichsten Disziplinen langfristig zusammenarbeiten.
Das Bildungs-und Ausbildungssystem ist hierzulande (wie das Wissenschaftssystem) noch immer stark fachdisziplinär bzw. technologisch ausgerichtet. Auch hier gilt es, transdisziplinäre Arbeitsweisen stärker zu verankern und die Ausbildung stärker zu internationalisieren – wie beispielsweise in Israel.
Kooperations-und Transferaktivitäten sollten nicht auf Forschungseinrichtungen und den Wirtschaftssektor beschränkt bleiben, sondern bewusst andere Perspektiven – wie etwa aus der Zivilgesellschaft – einbeziehen, um Innovationen bedarfsgerecht zu entwickeln. In Israel ist dies gerade mit Blick auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme ein Erfolgsfaktor. Auch sollte der Austausch eine europäische und globale Perspektive miteinschließen. Durch eine grenzübergreifende Zusammenarbeit lassen sich Wissen und Kompetenzen einbinden, die national nicht oder nicht ausreichend vorhanden sind.
Markt und Internationalität: Trotz eines hohen Grades an internationalen wissenschaftlichen und technologischen Kooperationen wird das Potenzial aus der Zusammenarbeit über Nationalstaatsgrenzen hinweg in Deutschland noch nicht voll ausgeschöpft. Maßstäbe setzt in diesem Punkt die israelische IIA: Sie nimmt neben dem lokalen immer auch das internationale Innovations-Ökosystem in den Blick. So werden internationale Märkte mit selbst entwickelten Technologien bedient und Israel als Standort für das internationale Unternehmertum gestärkt. Auch in Deutschland sollte man hinsichtlich der Sprunginnovationsförderung europäisch und global handeln – zum Beispiel durch Vor-Ort-Präsenzen in Innovationszentren oder die Abstimmung mit europäischen Initiativen (wie etwa dem European Innovation Council).
Gesellschaftspolitischer und kultureller Kontext: In Deutschland verhindert eine vergleichsweise hohe Risikoaversion disruptive Neuerungen. Diese schlägt sich auch in einer eher niedrigen Gründungsneigung nieder. Es gilt, die Bedeutung von Innovationen für die Gesellschaft stärker hervorzuheben sowie Risikoaffinität und Scheitern positiv zu besetzen. Auch sollten Infrastrukturen und regulatorische Voraussetzungen geschaffen werden, die sich in besonderem Maße für Experimentier- und Innovationsaktivitäten unter breitem Einbezug der Zivilgesellschaft eignen (z. B. Reallabore oder Experimentierwerkstätten).
Die internationalen Beispiele und aufgeführten Handlungsansätze zeigen: Die Förderung von Sprunginnovationen ist ein höchst komplexes Unterfangen und erfordert unterschiedliche Ansätze. Voraussetzung ist in jedem Fall eine hohe Risikoaffinität, interdisziplinäres und übersektorales Denken, eine große Offenheit gegenüber neuen Ideen – und ein langer Atem. Für den deutschen Kontext gilt: Die neuerlich gegründete Bundesagentur kann zweifelsohne eine wichtige Rolle spielen, doch sollten die bestehenden innovationsfördernden Rahmenbedingungen gezielt weiterentwickelt und oftmals flexibler gestaltet werden. Dann sind wichtige Weichen gestellt, dass Sprunginnovationen künftig einen zunehmenden Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit wie auch zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten können.
Diesem Beitrag liegt die gemeinsam von der Bertelsmann Stiftung und dem Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI verfasste Studie „Gesellschaftliche Herausforderungen durch Sprunginnovationen bewältigen“ zugrunde. Sie erscheint in der Serie „Innovation for Transformation“. Darin stellen wir Strategien, Politiken und Instrumente vor, die geeignet sind, die Innovationskraft in Deutschland und Europa zu fördern. Zum einen, um technologisch – und damit wirtschaftlich – wettbewerbsfähig zu bleiben. Und zum anderen, um durch Innovation die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Hierfür wurden Good-Practice-Beispiele aus 13 Ländern analysiert.
Die nächste Folge dieser Serie befasst sich mit der gezielten und effizienten Förderungen von Startups.
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