Sie bewegen sich buchstäblich am Puls der Zeit. Unscheinbare Armbänder mit Miniaturmessgeräten direkt am Handgelenk jener dynamischen Menschen von heute, die die Welt von morgen bewegen. Sogenannte Wearables, die unsere Lebensäußerungen vom Herzschlag über Bewegung oder Schlafrhythmus minutiös aufzeichnen und die Daten für die erdenklichsten Zwecke aufbereiten. Vor wenigen Jahren noch völlig unbekannt, haben sie hierzulande das Alltags- und sogar Nachtleben von Millionen erreicht. In Deutschland soll bereits jeder Vierte einen entsprechenden Tracker tragen, weitere 26 % planen ihn sich zuzulegen.
Kein Modegadget sondern eine technische Neuerung, die bislang noch völlig unerkannte soziale Folgen nach sich ziehen wird. Davon sind zumindest jene Forscher überzeugt, die für die EU-Kommission die bahnbrechenden Innovationen der kommenden Jahrzehnte herausfinden sollten. Unter Tausenden von Trends, Erfindungen, Patenten, Forschungsstudien und Neuentwicklungen haben sie für die Brüsseler Entscheider 100 radikale Innovationen identifiziert, die sich in den kommenden 20 Jahren Bahn brechen werden. Davon etwa ein Dutzend, die auch das Zeug für soziale Innovationen in sich bergen.
Jede Sekunde ein großes Blutbild
Die Fitnesstracker sind dabei nur eine kleines Puzzleteil. Die Vorhut eines umfassenden und permanenten Monitoring körperlicher Funktionen; sie versetzt die Probanden in die Lage die Biodaten ihres Alltags permanent zu sammeln – von der Nahrungsaufnahme über sämtliche Vitalfunktionen bis zu psychischen Befindlichkeiten. Ziel der Entwicklungen unter den Begriffen „Body 2.0“ oder „Quantified Self“ ist die (Selbst)Erkenntnis und Gesundheitsprävention durch ständige Überwachung. Die aktuell noch äußerlichen Sensoren sollen dabei schon bald zu Implantaten mutieren, die zum Beispiel durch eine Daueranalyse von Körperflüssigkeiten akute und chronische Erkrankungen wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Hormonstörungen oder Diabetes frühzeitig verhindern.
Das Potenzial und die Nachfrage nach solchen Monitoringsystemen treffen mit der Entwicklung von soziometrischen Überwachungstools zusammen, etwa für die Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen. Damit könnten Gefährdungen und Überforderungen, etwa durch Stress, ungesunde Immissionen oder Übermüdung erkannt und ausgeschaltet werden. Natürlich wachsen dabei auch die Gefahren von unzulässiger Überwachung, des Datenmissbrauchs oder des Verlustes der persönlichen Autonomie. Denn die so generierten Daten und Datenbanken werden selbstverständlich zur begehrten Ressource für die Gesundheitsforschung, Krankenversicherungen und nicht zuletzt Unternehmen der Medizin- und Pharmaindustrie. Die ersichtlichen Zielkonflikte von Datenschutz, individueller Datensouveränität, Gemeinnutz und wirtschaftlichen Interessen werden diese Entwicklungen dabei kaum bremsen, sondern vielleicht sogar noch befördern und diversifizieren. Etwa durch das Entstehen gemeinnütziger Genossenschaften, die solche Daten für ihre Mitglieder schützen oder gleichzeitig vermarkten. An solchen Monitoringsystemen zeigt sich beispielhaft: Soziale Innovationen sind nicht per se ein Fortschritt und ein mehr an Humanität. Ob sie zum Fluch oder zum Segen werden, ist nicht ausgemacht, sondern bedarf der Gestaltung.
Foto: Gerd Altmann
Das Lebensdaten-Logging findet seine Parallele in der Bewegung des sogenannten Live-Caching. Ein bereits voll entwickelter Trend mit einer 2,5 Milliarden-Dollar Branche. Sie arbeitet an Tools und Services, um alle sozialen Lebensäußerungen von Menschen möglichst dauerhaft zu bewahren: von E-Mails über Textnachrichten und Fotos bis zu Videos und Bloggingtexten. Gespeichert werden sollen so in einer Art elektronischer Scrapbooks möglichst sämtliche Lebenszeugnisse eines Individuums, um es für immer unvergessen zu bewahren.
Bedingungsloses Grundeinkommen und Innovationslabore in der Nachbarschaft
Diese Trendberichte sind aber weder Science Fiction noch überzogene Prognosen über modische Zeitströmungen mit technischem Schnickschnack. Vielmehr Analysen über bahnbrechende Innovationen, im Fachjargon RIB (Radical Innovation Breakthrough) genannt. Was die Forscher so sicher macht, ist eine weltweite wissenschaftliche Auswertung solcher Entwicklungen anhand harter Fakten. Unter der Leitung des deutschen Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) ist in diesem Jahr der Radical Innovation Breakthrough Inquirer (RIBRI) fertig gestellt und der EU-Komission übergeben worden. Er basiert auf der Auswertung von 500.000 Nachrichten auf wissenschaftlich-technischen Plattformen. Diese Informationen wurden abgeglichen mit der Entwicklung von Patenten oder einschlägigen Publikationen und anschließend von Tausenden von Fachwissenschaftlern auch auf die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes bis 2038 bewertet. Die entscheidende Frage war dabei: Haben diese Entwicklungen bereits einen hinreichenden technologischen Reifegrad erreicht und werden sie sich innerhalb der kommenden 20 Jahre auf breiter Basis durchsetzen? Die Antwort der Wissenschaftler nicht nur für das Selbsttracking war eindeutig. In den kommenden Jahren dürfte sich dieser Trend global und breitenwirksam durchsetzen, mit vielfältigen sozialen Implikationen, deren Eigendynamik sich für diesen Forschungsbericht natürlich noch nicht exakt prognostizieren lässt.
Foto: Mahesh Patel
Sicher sind sich die Forscher auch für ein weiteres Dutzend sozialer Innovationen in Wirtschaft, Bildung, Kultur oder Ökologie. So dürfte die Kombination von Digitalisierung, sozialen Online-Netzwerken und Plattformökonomien schon bald einen sprunghaften Auftrieb für Sharing Economy-Modelle oder eine Commons-based Economy bewirken. In den reichen Volkswirtschaften werde sich das Bedürfnis von Besitz und Eigentum in Richtung Erfahrung verlagern. Beispiele sehen die Wissenschaftler schon jetzt in erfolgreichen Pilotmodellen wie Wikipedia, Linux, TripAdvisor oder gemeinnützigen Websites zum Tausch. Der Anteil solcher Formen von Wertschöpfung in Wirtschaft und Gesellschaft werde sich durch verschiedene Formen der Zugangswirtschaft in den kommenden Jahrzehnten erheblich steigern. Ergänzt werden sie durch eine Zunahme von kollaborativen Innovationsräumen wie Hackerspaces, Makerspaces oder FAB- und Innovation Labs. Eine breitenwirksame Weiterentwicklung wird auch für alternative und digitale Währungen prognostiziert. Mit einer größeren Wahrscheinlichkeit wird dies auch für Formen von Basis- oder bedingungslosen Grundeinkommen erwartet.
Journalismus ohne Grenzen und für jeden
Es war eine beeindruckende Leistung und eine völlig neue Qualität des Journalismus, als im Jahr 2016 insgesamt 109 Zeitungen, Fernsehstationen und Online-Medien in 76 Ländern zeitgleich die entlarvenden Dokumente und Ergebnisse aus den Recherchen zu den sogenannten Panama Papers veröffentlichten und so die Steuertricks von über 200.000 Firmen bzw. Offshore Unternehmen offen legten. Erstmals trat damit ein internationales Konsortium von unabhängigen Recherchenetzwerken in Erscheinung, das den Weg zu völlig neuen Formen eines kollaborativen, investigativen Journalismus weist. Zukünftig werden Journalisten und Medien immer häufiger in solchen Strukturen arbeiten. Um unabhängig voneinander, aber gemeinsam an bestimmten Themen zu recherchieren, Fakten über größere Zusammenhänge zu ermitteln und sie anschließend kollektiv zu veröffentlichen. Dies erspart nicht nur Ressourcen, sondern ermöglicht erst eine internationale Recherche und den Schutz durch eine große Gegenöffentlichkeit, die individuell oder durch einzelne Journalisten und Medien nicht zu erreichen wäre.
Durch soziale Medien haben sich bereits heute unzählige Menschen in kürzester Zeit von ursprünglichen Zielgruppen selbst zu Quellen und Akteuren eines neuen „Journalismus“ gewandelt. Blogger und Vlogger, Podcaster und Videostreamer sind die Vorhut einer globalen Bewegung, die von einem bisher weitgehend passiven Medienkonsum zu einer aktiven Kommunikationskultur überleitet. Sie umgeht die bisherigen Gatekeeper wie Verlage und Redaktionen sowie offizielle staatliche und gesellschaftliche Institutionen der Meinungsbildung, aber verwandelt auch den Diskurs der „Wahrheitsfindung“ und Konsensbildung vielleicht in einen chaotisch-anarchischen Raum mit schwindendem Vertrauen und wachsender Orientierungslosigkeit.
Studienplätze am Tablet
Auch das Bildungswesen ist im Zuge der Digitalisierung einer ähnlicher Entwicklung unterworfen. Exponentiell wächst derzeit die Zahl der Akteure, Bildungsplattformen oder Methoden für Lehre, Aus- und Weiterbildung. Über 800 Universitäten etwa bieten bereits Vorlesungen und Seminare über App Stores an, die sich ortsunabhängig und etwa mit Tablets nutzen lassen. Technologie- und Softwareunternehmen schaffen Plattformen für Praxistrainings und berufliche Weiterbildung. Sie fungieren auch als „Katalysatoren für die Personalisierung und die Individualisierung des Lernens“. Diese Diversifizierung ermöglicht neue Formen der Teilhabe, sie schafft gleichzeitig neue Konkurrenzen zu den etablierten Bildungsinhabern und entwickelt völlig neue Märkte. Als starken Trend und Nebenzweig dieser Entwicklung sehen die Innovationsforscher in ihrem Bericht auch eine vielfältige Entwicklung des Gamefikation in der Wissensvermittlung, Weiterbildung und Kommunikation, beim Coaching, zur Unterhaltung oder Selbsterfahrung.
Foto: Linus Schütz
Autofreie Städte und Landwirtschaft im Wohnzimmer
Von Mailand, über Songdu in Korea bis Chengdu in China wächst die Zahl der Städte, die bereits heute versuchen komplett oder weitgehend autofrei zu werden. Ob durch „grüne Netze“, Verbotszonen, Kontingentierung oder attraktive Alternativen: vor allem Europäer und Asiaten sind aktiv, um Autos langfristig aus vielen Metropolen zu verbannen oder bei Neugründungen im voraus auszuschließen. Diese Entwicklung wird aktuell vielleicht nicht global oder gleichermaßen verfolgt, dürfte sich aber erheblich ausweiten. Und in diesem Fall entsteht sie weniger als Folge einer technischen Weiterentwicklung oder einer Marktlogik sondern folgt politischen Vorgaben und Missionen.
Und last but not least: Im Schatten der Ökologiebewegung prognostiziert der Forschungsbericht soziale Innovationen mit dem Entstehen lokaler Kreisläufe zur Lebensmittelerzeugung. Als Reaktion auf die globale und industrialisierte Lebensmittelwirtschaft sehen die Wissenschaftler weltweit immer mehr Konzepte sprießen. Von der Slow-Food-Bewegung, Veganismus, Biolandwirtschaft- und Permakultur über Urban Gardening bis zu regionaler Vermarkung und Community Gardening Initiativen. Noch in den Anfängen aber mit sicherem Potenzial wird etwa der Anbau von Lebensmitteln in In-Door-Systemen erwartet.
Foto: Rudy und Peter Skitterians
Auch soziale Innovationen brauchen eine Mission
Sicher ist bislang, dass sich diese sozialen Innovationen in weniger als zwei Jahrzehnten durchsetzen sollen. Unsicher ist allenfalls das Wie und die Folgewirkungen. Evidenz wird dafür erst die Zukunft liefern. Bereits heute aber lassen sich aus dem 300-Seiten-Report neben faszinierenden Visionen auch drei wichtige Schlussfolgerungen ziehen.
- Deutlich wird, dass soziale Innovationen der Gegenwart offenbar wie auch schon in früheren Epochen stark durch technische Innovationen früherer Jahre hervorgebracht werden, heute insbesondere durch die Digitalisierung, das Internet, soziale Medien und KI. Für uns Europäer wird es von strategischer Bedeutung sein, mit Blick nach Asien und in die USA gerade bei diesen Schlüsseltechnologien am Ball zu bleiben und wieder aufzuholen. Nicht zuletzt, um so auch Standards nach europäischen Normen und Werten zu setzen oder gewünschte soziale Innovationen zu erreichen. Wie das Beispiel Monitoring zeigt, liegen Fluch und Segen hier nah beieinander.
- Die Prognosen der Wissenschaftler, auch wenn sie auf Fakten und wissenschaftlichen Messungen beruhen, sind lediglich Momentaufnahmen. Es handelt sich nicht um Selbstläufer. Innovation können befördert oder ausgebremst werden. Sie gedeihen nur, wenn Nachfragemärkte entstehen, öffentliche und private Förderung gegeben sind und die Rahmenbedingungen stimmen.
- Wenn soziale Innovationen auch gesellschaftliche Ziele erreichen sollen, brauchen sie klare Missionen und politische Vorgaben. Gegenwärtig nehmen wir nur die Bewegungsrichtung und Dynamik wahr. Damit sie eine positive Entwicklung nehmen, bedürfen sie der aktiven Gestaltung, Weiterentwicklung oder Regulierung – wiederum nach europäischen und demokratischen Normen.
So gesehen hätte die EU-Kommission mit diesem Gutachten nicht nur eine wissenschaftliche Analyse in den Händen sondern auch einen klaren Auftrag.
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