Sie ist eine Branche der besonderen Art: geprägt von Vulnerabilität, Abhängigkeit und physischer Nähe ebenso wie von den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Ihrem Selbstverständnis nach gilt die Pflege eher als „Low tech“-Branche, in der die soziale Interaktion im Zentrum steht und der Einsatz digitaler Technologien nicht weit fortgeschritten ist. Und trotzdem – oder gerade deshalb – werden hohe Erwartungen an den Einsatz innovativer Pflegetechnologien geknüpft, wenn es darum geht, angesichts demografischer Trends und struktureller Probleme auch in Zukunft Qualität der Pflege, Qualität der Arbeit und Wirtschaftlichkeit gleichermaßen zu erfüllen.
Studien zeigen, dass Pflegepersonen digitaler Technik gegenüber zunehmend neugierig und positiv eingestellt sind. Auch herrscht auf vielen Ebenen Aufbruchs- und Gestaltungswille – sei es in den Pflegeeinrichtungen selbst, in Bundes- und Landesministerien (hier meistens in Form von Förderprojekten) oder durch Gesetze. Es stellt sich dennoch die Frage, wie weit der Technologieeinsatz in der Pflege in Deutschland und im Ausland tatsächlich ist. Wo liegen die Trends und welche Hindernisse bremsen die konkrete Anwendung innovativer Technologien in der Pflegepraxis?
In unserer Studie „Potenziale einer Pflege 4.0“ hat das Institut für Innovation und Technik anhand von sieben Fallstudien im In- und Ausland ermittelt, welche Be- und Entlastungseffekte durch eine Vielzahl an Pflegetechnologien für Pflegefachpersonen in der stationären Langzeitpflege entstehen, was daraus für die Pflegequalität folgt und welche Effekte sich dadurch für Deutschland insgesamt ergeben könnten. Die Recherche geeigneter Fallbeispiele entwickelte sich zu einer nahezu detektivischen Suche und macht deutlich: Pflegesettings, die durch vielfältige Pflegetechnologien gestützt werden und bereits heute die Idee von einer „Pflege 4.0“ vermitteln, sind hierzulande wie auch im internationalen Raum noch Hidden Champions.
Die Beziehungsgrundlage: voraussetzungsvoll
Die Pflegearbeit ist geprägt durch personennahe Tätigkeiten am und mit dem Menschen. Die Interaktion mit den Pflegeempfangenden bildet den identitäts- bzw. sinnstiftenden Kern. Dadurch entstehen für die Pflegenden besondere Anforderungen: Eine gefühlsbetonte, offene, situative und daher wenig vorstrukturierte Vorgehensweise im Kontakt mit den Pflegeempfangenden, ebenso wie der angemessene Umgang mit den eigenen Emotionen. Da das Gegenüber häufig situationsbezogene, nicht vorhersehbare Bedürfnisse hat, ist die Interaktionsarbeit zudem nur eingeschränkt planbar. Das steht im Widerspruch zu gut durchorganisierten, möglichst effizienten oder auch standardisierbaren Arbeitsprozessen und ist für die Pflegekräfte psychisch fordernd.
Der Einsatz digitaler Technologien in der Interaktionsarbeit birgt das Risiko, die Tätigkeiten der Pflegenden zu stark zu formalisieren und zu standardisieren – auf Kosten der zwischenmenschlichen Beziehung und der an den situativen Bedürfnissen des Einzelfalls orientierten Pflegearbeit. Im ungünstigsten Fall schiebt sich die Technologie im Pflegealltag zwischen den Pflegenden und den Pflegeempfangenden und schafft Distanz. Unterstützt werden können durch den Einsatz digitaler Technologien hingegen das pflegerisch-medizinische Handeln, körperlich fordernde Tätigkeiten, wie z.B. schweres Heben, sowie pflegeferne Tätigkeiten und Routineaufgaben mit administrativem Charakter.
Der Beziehungsstatus: kompliziert
Vielerorts machen sich Pflegeeinrichtungen in Sachen Digitalisierung und Technologieeinsatz auf den Weg. In Deutschland sind digitale Technologien in der Langzeitpflege aktuell stärker in der vollstationären Versorgung sowie im Bereich der Verwaltung und Organisation verbreitet, weniger hingegen im teilstationären und ambulanten Sektor sowie im Bereich der Pflege und Betreuung. In der stationären Pflege kommen insbesondere technische Systeme zur körperlichen Entlastung (z.B. Hebehilfen wie Personenlifter und elektrische Betten), Sensorik (z.B. zur Sturzprävention) und computergestützte Systeme (z.B. Wii-Spiele) zum Einsatz, Robotik hingegen nur vereinzelt. Miteinander vernetzt sind die einzelnen Technologien kaum.
Generell lässt sich feststellen, dass Pflegepersonen vor allem Technologien zur sozialen und emotionalen Unterstützung eher kritisch und konträr zu ihrem Berufsbild stehend sehen. Von Systemen zur Dokumentation, dem Monitoring oder der körperlichen Unterstützung versprechen sich Pflegende hingegen durchaus einen positiven Einfluss auf die Attraktivität des Arbeitsplatzes. Technologien werden vor allem dann befürwortet, wenn sie entlasten ohne die zwischenmenschliche Fürsorge zu beeinträchtigen. Allerdings werden auch negative Folgen befürchtet, wie etwa mehr Zeitdruck, Personaleinsparung, weitere Arbeitsverdichtung und Kontrolle. Trotz des für die pflegerische Versorgung hohen Mehrwerts tauschen bisher nur 17 Prozent der stationären und 22 Prozent der ambulanten Einrichtungen regelmäßig Daten mit Ärzt:innen oder anderen Gesundheitsdienstleistern aus. Als Gründe hierfür nennen Pflegeeinrichtungen mangelndes Interesse bzw. fehlende technische Ausstattung der anderen Akteure.
Auch wenn Pflegefachpersonen technologische Innovationen weitgehend kennen, haben sie in ihrem Arbeitsalltag jedoch selten direkten Zugang zu ihnen. Das liegt vor allem an der oft fehlenden Infrastruktur. Nach wie vor gibt es hemmende Faktoren für den Technologieeinsatz, insbesondere Finanzierungsprobleme (sowohl bei der Innovationsförderung als auch bei der langfristigen Refinanzierung), eine geringe Akzeptanz bei älteren Beschäftigten, die zeitaufwendige Einarbeitung der Mitarbeiter:innen bei der Einführung der Technologien, mangelnde Interoperabilität zwischen technologischen Systemen sowie der mangelnde Reifegrad der Technologien. Auch wird der Markt für Pflegetechnologien oftmals als unübersichtlich und komplex wahrgenommen. Aufgrund des Abrechnungs- und Vergütungssystems hat die Pflege – im Unterschied zu anderen Branchen – nur in sehr geringem Umfang die Möglichkeit, die sich im Erfolgsfall ergebende Digitalisierungsdividende zu monetarisieren und zu nutzen. Vielmehr stehen die Pflegeeinrichtungen vor der Herausforderung, in einem durch Pflegesätze und Personalbemessungsschlüssel hochgradig regulierten Umfeld betriebswirtschaftlich agieren zu müssen.
Wie ist der Status im Ausland?
Im Ausland wird die ambulante pflegerische Versorgung bereits teilweise durch vernetzte Technologien gestützt, z.B. durch Freisprech-Notfallsysteme für Pflegeempfangende in Form von intelligenten Armbändern oder Anhängern, die mit Sensorik zur Sturzerkennung arbeiten und automatisch den Aufenthaltsort an ausgewählte Telefonnummern senden. In der stationären Langzeitpflege gehören die digitale Dokumentation und mit ihr die technikgestützte sektorenübergreifende Kooperation heute bereits zum Alltag. Wenn es um den Einsatz einer Vielzahl, z.T. interoperabler Technologien geht, werden allerdings auch international eher anfängliche Bemühungen und kürzere Erfahrungszeiträume sichtbar.
Selbst in Ländern wie den USA, Korea oder Japan, die z.T. ausgesprochene Hochtechnologieländer und in besonderer Weise vom demografischen Wandel betroffen sind, überwiegen Insellösungen für das Monitoring oder die Kommunikation von Senior:innen in der eigenen Häuslichkeit. Komplexe Sensorik oder robotische Systeme sind in der Praxis kaum zu finden. Demgegenüber sind skandinavische Länder – allen voran Dänemark und Norwegen – oder die Niederlande nicht nur technisch avanciert, sondern auch in Bezug auf soziale Innovationen – z.B. in der Arbeitsorganisation – sehr aktiv. Hier setzt die Pflegepraxis häufiger auf komplexere Systeme mit einer Vielzahl an digitalen Technologien, um das Pflegepersonal bei der Pflegeplanung, dem Monitoring und der Dokumentation bis hin zur empathischen Begleitung der Pflegeempfangenden zu unterstützen.
Zunehmend Aufmerksamkeit erhält das Thema Künstliche Intelligenz und damit die Möglichkeit, in Sensordaten Muster zu erkennen, die Aussagen zu individuellen Veränderungen im Gesundheitsstatus Pflegebedürftiger erlauben. Damit verbunden ist die Chance, auch über die Entfernung kleinste Abweichungen im Gesundheitszustand bei Pflegebedürftigen zu bemerken und frühzeitig einzuschreiten. Auch bieten solche Systeme das Potenzial, den Einsatz der Pflegekräfte sehr differenziert zu planen und dadurch z.B. Engpasssituationen zu vermeiden.
Ausblick: Es gibt Hoffnung!
Die Nutzung innovativer Pflegetechnologien befindet sich aktuell in einer Art Schwebezustand: Das Wissen um derartige Technologien verbreitet sich zusehends, die Praxiserfahrungen sind jedoch noch deutlich geringer. Dennoch konnten für die Studie sowohl im In- als auch im Ausland Pflegeeinrichtungen identifiziert werden, die bereits einen Eindruck davon vermitteln, wie ein digital unterstützter „Workflow“ im Sinne einer Pflegearbeit 4.0 in Zukunft aussehen könnte.
Während der erste Blogbeitrag dieser Serie die Potenziale sozialer Innovationen gegen den „Pflexit“ vorgestellt hat, wird der nachfolgende Beitrag den Aspekt des wirkungsvollen Technologieeinsatzes nochmals vertiefen.
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