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Dr. Tina Klages
8. Januar 2024

Open Innovation meets Citizen Science: Frugale Innovationen von und für Bürger:innen

Alle Köpfe werden gebraucht, um die aktuellen globalen und systemübergreifenden Herausforderungen anzugehen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die sowohl innovativ als auch bezahlbar sind. Wie dies gelingen kann. 

Sowohl Open Innovation (die Integration externen Wissens in Innovationsprozesse) als auch Citizen Science (Bürgerwissenschaften) halten seit Jahren Einzug in das Wissenschafts- und Innovationssystem. Relativ neu ist aber die Kombination beider Welten – Wirtschaft und Gesellschaft – zum Zweck der ko-kreativen Entwicklung frugaler Produkte. 

Neu ist es auch, hierzu innerhalb eines Projekts weltweit Innovations-Challenges zu veranstalten, die nicht wie üblich „Nerds“, Tüftler:innen und ohnehin interessierte junge, vernetzte Menschen ansprechen, sondern sich an marginalisierte Gruppen richten. Also an Menschen, die bei derartigen Formaten ansonsten eher nicht teilnehmen, z.B.: ältere Menschen oder Menschen aus kinderreichen oder einkommensschwachen Familien. Diese neuartigen Ansätze werden im EU-Projekt FRANCIS (Frugal Innovations by Citizens for Citizens) kombiniert umgesetzt.

Dieser Aufgabe stellen sich sieben Partner aus sechs Ländern: Fraunhofer IAO und IRB (Deutschland), VTT und InnoFrugal (Finnland),  The Behavioural Insights Team (Großbritannien), Agorize (Frankreich), HELIOZ (Österreich), BSH Turkey (Türkei).

Frugale Innovation – Essenzialismus in der Produktentwicklung

Aber nun nochmal einen Schritt zurück: Wovon sprechen wir bei Frugalen Innovationen und Citizen Science eigentlich? Frugale Innovationen sind einfache, günstige und nachhaltige Lösungen: Produkte, die für eine breite Bevölkerungsgruppe erschwinglich sind, da sie sich auf die basalen Grundfunktionalitäten beschränken und ganz nah am Bedarf der Nutzer orientiert sind.

Frugale Lösungen sind bereits in vielen Bereichen im Einsatz – zum Beispiel Gesundheit, Bildung und Energieversorgung. Beispiele für frugale Produkte sind der Kühlschrank Mitticool, der ohne Strom betrieben wird, die Ein-Dollar Brille und die kleine, schlanke Erntemaschine Crop Tiger des deutschen Herstellers Claas.

Diese Form des „Produktminimalismus“ gewinnt in Zeiten übergreifender globaler Herausforderungen zunehmend an Bedeutung – wie steigender Weltbevölkerung und zunehmender Ressourcenknappheit bzw. beschränktem Zugang zu Ressourcen. Aber auch in den Industrieländern wächst der Bedarf, da auch hier Kosten reduziert werden müssen und gleichzeitig nachhaltige Produktlösungen gefragt sind. Frugalismus ist dadurch inzwischen auch in der Nachhaltigkeitsdiskussion auf politischer Ebene angekommen, zum Beispiel im Kontext der Nachhaltigkeitsziele der UN (Sustainable Development Goals). 

Citizen Science – Bürger*innen forschen und entwickeln

Bürgerforschung oder Citizen Science bezeichnet Aktivitäten, die Bürger:innen, die normalerweise nicht im Wissenschaftsbereich tätig sind, in Forschungsprozesse involvieren. Die Kooperation kann dabei auf verschiedenen Ebenen erfolgen: Von der Sammlung von Daten (zum Beispiel zu Wildkräutervorkommen oder Wasserständen in Binnengewässern) bis hin zum ko-kreativ entwickelten Sensor zur Messung des Nitratgehalts im Boden. 

Die Integration verschiedener Akteure in Forschungs- und Innovationsprozesse hat viele Vorteile: Die Wissenschaft erhält beispielsweise durch die Bevölkerung gesammelte Daten (z.B. über Apps), die sonst unmöglich zu erheben wären. Interessierte Bürger:innen können sich außerdem zu den Forschungsthemen nicht nur weiterbilden, sondern werden befähigt zu „forschen“ und lernen neben den Grundzügen des wissenschaftlichen Arbeitens auch den Umgang mit und die Analyse von Informationen und Daten. Ein zentraler Benefit ist es auch hier, die Lebensrealitäten der Menschen integrieren zu können und mit ihnen gemeinsam nicht nur Technologien und Produkte, sondern vor allem auch politische Prozesse und soziale Innovationen zu gestalten. Dies ermöglicht die gemeinsame Entwicklung von Lösungen in allen Systembereichen.

Insgesamt wird dadurch der interdisziplinäre Austausch gefördert, Wissenschaft inklusiver gestaltet und mehr Transparenz bzw. Glaubwürdigkeit für Forschung, Innovation und politische Prozesse in der Gesellschaft geschaffen.  

Der Plan – Reallabor auf drei verschiedenen Ebenen

Ziel des Projekts FRANCIS ist die Entwicklung eines konzeptionellen Rahmens für frugale Innovationsprozesse mit Bürger:innen. Die dabei erprobten Kommunikationsformate und Kollaborationsmethoden, aber auch praktische Tools und Handlungsempfehlungen für die Konzeption, Realisierung und Evaluierung solcher Aktivitäten werden am Ende allen Interessierten zur Nachnutzung zur Verfügung gestellt. 

Abbildung: das FRANCIS -Team © Agorize

Dafür arbeitet das Team auf drei verschiedenen Ebenen parallel:

Ebene 1: Innovations-Challenges
Ziel der „Challenges“ (Innovationswettbewerbe) ist, dass sich Bürger*innen zusammenschließen und gemeinsam überlegen, was sie zum Beispiel im Kontext von Haushalt und Küche an Geräten und Hilfestellungen brauchen könnten, die ihnen das Leben einfacher machen. Sie wissen aus ihrer Lebenswirklichkeit heraus genau, was sie brauchen und können somit ihre Bedarfe direkt in Produktideen umsetzen. Industrieunternehmen haben zwar Kompetenzen in Bezug auf eigene Technologien und Fertigungsmöglichkeiten, aber nur selten direkte Einblicke in die Lebensumstände der potenziellen Nutzer:innen ihrer Produkte. Aus diesem Grund arbeiten Industriepartner und Teilnehmende in den Challenges direkt zusammen, um gemeinsame Lösungen (methodisch angelehnt an Design Thinking) zu entwickeln.

Ebene 2: Verhaltensforschung
Weiterhin wird untersucht, wie es möglich ist, Menschen ohne Involvierung in Wissenschaft oder gar in Innovations- und Entwicklungskontexte zu motivieren und zu befähigen, sich über mehrere Monate hinweg auf freiwilliger Basis in die Entwicklung einer Produktidee einzubringen und auch bis zum Ende daran mitzuwirken. Dazu wurden sogenannte „Journeys“ entwickelt – also Beschreibungen des Prozesses, den die Bürger*innen im Rahmen der Challenge durchlaufen. Im Projekt werden Barrieren und Hemmnisse bzw. Motivatoren in diesem Prozess identifiziert und diese Erkenntnisse direkt im Projekt umgesetzt. 

Ebene 3: Evaluationsinstrument für Nachhaltigkeit
Die dritte Ebene befasst sich mit der Entwicklung eines Evaluationsinstruments, das parallel zu den Challenges entwickelt wird. Es basiert auf zwei Nachhaltigkeitskonzepten – den Nachhaltigkeitszielen der UN (SDGs) und den Anforderungen an nachhaltige Wissenschaft und Innovation (RRI) – und wird direkt im laufenden Projekt getestet und weiterentwickelt, um es für weitere Initiativen dieser Art nachnutzbar zu machen. 

Die Umsetzung

Die Challenges sind in drei Phasen unterteilt: 

  • die Ideenphase (offen für alle Interessierten)
  • die Konzeptphase (Auswahl von rund 20 eingereichten Ideen, um diese in Konzepte zu überführen) 
  • die Prototypenphase (Auswahl von rund 5 Konzepten, die in Prototypen umgesetzt werden) 

Jede Phase endet mit einer Bewertung durch eine Jury (bestehend aus Vertreter:innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft). Am Ende wird im Rahmen eines Abschlussevents die beste Idee gekürt (siehe Abb.). 

Abbildung: Ablauf der Frugal Innovation Challenges

Die erste Challenge wurde von BSH Bosch Home Appliances Turkey mit einem speziellen Fokus auf Bürger*innen in Deutschland, der Türkei und Indien ausgerichtet. Der Ideenwettbewerb zum Thema „Haushalt und Küche“ ist im Januar 2023 gestartet und wurde im August 2023 abgeschlossen. 

Doch wie kann man solche Innovations-Challenges überhaupt realisieren?

Identifikation der Zielgruppen: Die Zielgruppen für die verschiedenen Länder wurden durch Persona-Workshops entwickelt. Zielgruppen in Deutschland waren beispielsweise Minimalisten, Frugalisten, unter anderem unabhängige Senior*innen sowie Familien mit beschränktem Budget und Platz. In Indien wurden unter anderem kinderreiche Familien im ländlichen Raum angesprochen, in der Türkei Flüchtlinge. 

Information, Motivation, Involvierung der Teilnehmenden: Über verschiedene Multiplikatoren wurde zu Projektbeginn anhand von Print- und Onlineformaten über FRANCIS informiert. Hierzu fanden initiale Round Table Events mit Vertreter:innen von Vereinen und Organisationen statt, die als vertrauensvolle Kontaktpersonen für die Zielgruppen fungieren und die deren Sprache sprechen bzw. Lebenswirklichkeit verstehen. Hierüber wurden Ideen für eine zielgruppengerechte Ansprache und für die Schaffung von motivationsfördernden Elementen der Challenges diskutiert und direkt im Kommunikations- und Rekrutierungskonzept umgesetzt. 

Teilnahme an der Challenge und Support: Potenzielle Teilnehmer:innen können sich über die Website an den Wettbewerben beteiligen, indem sie sich allein oder als Team registrieren. Bei der Erarbeitung der Ideen erhalten sie Unterstützung durch verschiedene Mentor:innen. Während der Ideenwettbewerbe und Workshops führen Wissenschaftler:innen Umfragen durch, um die Entwicklung von Ideen zu fördern, aber auch um Feedback zur gesamten „Journey“ zu sammeln. Darüber hinaus hat jedes teilnehmende Team einen „Buddy“, der ihnen während des gesamten Prozesses in allen Fragen zur Seite steht. Es gibt aber auch die Möglichkeit, sich direkt mit einem Industrie-Coach auszutauschen. 

Die Teams erarbeiten also ihre Ideen und hoffen, jeweils in die nächste Runde zu kommen. Parallel werden alle Teilnehmenden aus behavioristischer Perspektive analysiert. FRANCIS untersucht somit fortlaufend, wie Bürger:innen in dem gesamten Prozess optimal unterstützt werden können.

Innovationsworkshop mit Senior*innen in Berlin, begleitet durch den Verein „Wege aus der Einsamkeit“

Die aktuelle Challenge wurde im August abgeschlossen. Die finalen Teams werden in Kürze veröffentlicht.

Die Verwertung

Am Ende steht natürlich die Frage im Raum: Was wird mit den Inventionen gemacht? Es geht also um  faire Verwertungsmöglichkeiten für das am Ende der Challenges vorliegende geistige Eigentum (IP). Hier hat BSH für die aktuelle Challenge Szenarien wie die folgenden identifiziert: 

  • Szenario 1: Das Team möchte das IP an BSH verkaufen und BSH hat Interesse dieses zu verwerten.
  • Szenario 2: Das Team möchte das IP an BSH verkaufen, es ist für BSH jedoch nicht attraktiv. Das Team kann es anderweitig verwerten.
  • Szenario 3: Das Team möchte das generierte IP selbst verwerten. Das ist ebenso möglich.

Somit bleibt den Teams die Entscheidung offen, wie sie mit ihrem IP am Ende der Challenges umgehen möchten. 

Die Learnings

Die erste der zwei Challenges ist nun abgeschlossen. Es hat sich gezeigt, dass die Konzeption, Organisation und Durchführung solcher Innovations-Challenges mit Bürger:innen mit einer gewissen Herausforderung verbunden ist, da viele heterogene Menschen orchestriert werden müssen.
Aber: Heraus kommen fantastische Ideen mit viel Potenzial – es lohnt sich also, diese Herausforderung anzunehmen! Im Projekt konnten viele Erkenntnisse gewonnen werden, was Herausforderungen in der Zusammenarbeit mit Bürger*innen generell und marginalisierten Gruppen im Speziellen betrifft. Die wichtigsten Erkenntnisse wurden auf der iSCSi Konferenz 2023 im Oktober vorgestellt und anschließend für alle zugänglich veröffentlicht (Open Access).

Die Message

Es lohnt sich! Auch wenn es aufwändig ist, heterogene Akteur:innen in Forschungs- und Innovationsprozesse zu integrieren und diese zu befähigen, ko-kreativ Lösungen zu entwickeln – es lohnt sich gleich auf verschiedenen Ebenen und unsere Gesellschaft braucht mehr von diesen Ansätzen. 

Anhand von Projekten wie FRANCIS werden viele Methoden, Toolboxes, Best Practices, Anleitungen und Hilfestellungen dazu entwickelt, die zur Verfügung stehen. Organisationen und Initiativen aller Art können diese nachnutzen, um den Ideenreichtum der Menschen in ihren Lebenswelten zu schöpfen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die die Welt zu einem besseren Ort machen – hier in Deutschland, in Indien oder wo auch immer in der Welt. 

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