Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich mit 20 weiteren Menschen in einem Raum, besser noch: auf einer Linie. 20 Menschen, die genau wie sie, Interesse am Gründen haben, die bereits ein Startup gegründet haben oder es bald tun werden. Die aber auch daran scheitern könnten. Ist die Wahrscheinlichkeit, erfolgreich zu gründen, oder das Risiko, während dieses Prozesses zu scheitern, bei allen gleich?
Sie schauen sich um und sehen in die Gesichter der anderen. Sie sind sich sicher: Hier sind viele unterschiedliche Charaktere unterwegs. Was Sie nicht bedenken: Die Charaktere sind nicht die einzigen Unterschiede, die in diesem Moment eine Rolle spielen.
Wovon hier die Rede ist? Lassen Sie sich auf ein Experiment ein.
Ein kleines Experiment
Begriffe wie risikoaffin, innovativ oder eigenverantwortlich werden oft mit Gründen in Verbindung gebracht. Wer einmal gründet, wird häufig zum Seriengründenden. Achtung und Respekt sind hier vorprogrammiert, von Glück oder Privilegien wird hingegen kaum gesprochen. Doch entspricht diese Ansicht der Realität? Herrscht Chancengleichheit oder gar Chancengerechtigkeit im Gründungsökosystem? Probieren wir es aus!
Sie befinden sich wieder auf einer Linie mit den anderen 20 Personen. Es werden nacheinander Statements vorgelesen. Wenn das Statement auf Sie zutrifft, gehen Sie (gedanklich) einen Schritt nach vorne. Wenn Sie sich unsicher sind oder das Statement nicht auf Sie zutrifft, bleiben Sie stehen. Wichtig: Antworten Sie intuitiv. Es geht nicht um Sieg, Gewinnen oder gesellschaftskonforme Antworten, sondern um einen Realitäts-Check. Kommen wir nun zu den ersten Statements.
Dimension Geschlecht
Machen Sie einen Schritt nach vorne, wenn Sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht haben, sich einen männlichen Mitgründer mit ins Team zu holen.
Machen Sie einen Schritt nach vorne, wenn Sie bei Gesprächen jeglicher Art noch nie danach gefragt wurden, wie Sie Familie und Unternehmer:innentum unter einen Hut bekommen wollen.
Das Thema Geschlecht ist im Gründungsökosystem alles andere als ein Randthema, sondern ein struktureller Faktor. Doch weniger als 20 Prozent der Startup-Gründenden sind Frauen. Diese Zahl ist nicht nur ernüchternd, sondern auch erschreckend.
Dass dies als Entschleuniger für Deutschlands Innovationskraft und Wirtschaftswachstum gilt, sollte hier mehr als deutlich werden. Lediglich 8 Prozent der männlichen Gründer sehen jedoch in der geringen Repräsentanz von Frauen ein Problem. Bei den Gründerinnen hingegen sind es 43 Prozent. Ein Missverhältnis, das Bände spricht.
Ein besonders eindrückliches Beispiel liefert der Bereich Finanzierung: Nur 2 Prozent des Risikokapitals fließen in reine Frauenteams. Wie kommt das? Studien zeigen, dass Investor:innen Frauen häufiger sogenannte Präventionsfragen stellen – etwa: „Welche Strategie verfolgt ihr, um Kund:innenverluste zu verhindern?“ Männer hingegen bekommen öfter Promotionsfragen gestellt – zum Beispiel: „Welches Wachstum strebt ihr in den nächsten Jahren an?“
Diese ungleiche Behandlung passiert oft unbewusst. Doch genau darin liegt das Problem: Neben dem bekannten Gender Bias wirkt hier auch der sogenannte Unconscious Bias. Wir vertrauen am ehesten den Menschen, die uns ähnlich sind, wodurch sich bestehende Machtverhältnisse immer weiter verstärken.
Solange das Gründungsökosystem vorwiegend männlich geprägt ist und tendenziell auch bleibt – ganz gleich auf welcher Ebene– und strukturelle Ungleichheiten nicht als echtes Problem anerkannt werden, verlieren wir sowohl Innovationspotenzial als auch Wirtschaftskraft.
Kommen wir nun zu unseren nächsten Statements.
Dimension: Migrationsbezug
Machen Sie einen Schritt nach vorne, wenn Sie sich bei Pitches nie gefragt haben, ob ihr Akzent, Aussehen oder Name ein Nachteil ist.
Machen Sie einen Schritt nach vorne, wenn Sie noch nie persönlich Erfahrung mit Rassismus gemacht haben.
Ein vorhandener Migrationsbezug ist im Gründungsökosystem zentraler Einflussfaktor, der über Chancen, Ressourcen und Wahrnehmung (mit-)entscheidet. Auch hier zeigt sich: Die Ausgangsbedingungen sind nicht gleich. So erleben Menschen mit Migrationshintergrund 40 Prozent häufiger Hürden beim Zugang zu externer Finanzierung.
Und trotzdem – oder gerade deshalb – steckt in migrantischen Perspektiven ein enormes Innovationspotenzial: Gründende mit Migrationsbezug haben eine um 14 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, mit Marktneuheiten aufzutreten. Doch dieses Potenzial bleibt oft ungenutzt. Denn wer ständig mit Fragen konfrontiert ist, die nicht im Zusammenhang mit der Geschäftsidee, sondern vielmehr mit dem eigenen Namen oder dem Aussehen stehen, pitcht unter anderen Voraussetzungen – oder gar nicht.
Es sind nicht nur die offensichtlichen Diskriminierungen, sondern auch subtile Ausschlüsse, fehlende Vorbilder und ein Mangel an Sichtbarkeit. Der Unconscious Bias wirkt auch hier: Wir fördern, wem wir vertrauen und wer uns bekannt erscheint. Und Vertrauen entsteht leichter dort, wo Ähnlichkeit vermutet wird.
Solange das Gründungsökosystem Menschen mit Migrationsbezug strukturell benachteiligt und dabei ihre Innovationskraft übersieht, verlieren wir den Anschluss an internationale Märkte und Standards.
Blicken wir auf die nächste Dimension.
Dimension: Soziale Herkunft
Machen Sie einen Schritt nach vorne, wenn Ihre Eltern Akademiker:innen sind.
Machen Sie einen Schritt nach vorne, wenn bei Ihnen am Abendbrottisch über wirtschaftliche und politische Themen gesprochen oder sogar kontrovers diskutiert wurde.
Soziale Herkunft ist im Gründungsökosystem ein entscheidender, oft übersehener struktureller Faktor. Während knapp 57 Prozent der Gründer:innen aus akademischen Elternhäusern stammen, sind es in der Gesamtbevölkerung lediglich 18 Prozent. Unter den Startup-Gründenden haben 85 Prozent selbst einen Hochschulabschluss. Bildung ist hier also eine Zugangsvoraussetzung zu unternehmerischem Erfolg. Das ist weit entfernt von echter Bildungsgerechtigkeit.
Wer aus einem nicht-akademischen Elternhaus kommt, betritt die Welt des Unternehmer:innentums mit anderen Voraussetzungen: mit weniger kulturellem Kapital, weniger Netzwerken und weniger finanzieller Unterstützung. Für viele ist „Gründen“ lange ein Fremdwort; ein abstraktes Konzept, das negativ behaftet oder mit Unsicherheit und Scheitern verbunden wird, was sich die meisten nicht erlauben dürfen. An ihren Küchentischen saßen keine Investor:innen oder Unternehmer:innen, die Einblicke geben und Praktika vermitteln konnten. Von (Gründungs-)Stipendien hörten sie, wenn überhaupt, viel zu spät, da diese Programme für sie schlicht nicht sichtbar sind. Ein Rückstand, der sich bis ins Erwachsenenalter zieht und der von vielen nicht ganz aufgeholt werden kann.
Solange Zugänge nicht bewusst geöffnet und strukturelle Barrieren nicht aktiv abgebaut werden, bleibt das Gründungsökosystem ein Raum, der vor allem jenen offensteht, die ihm ohnehin schon nah sind. Wir verlieren Menschen, die außerhalb der klassischen Blase denken.
Betrachten wir nun unsere finale Dimension.
Dimension: Junges Gründen
Mein junges Alter hat noch nie dafür gesorgt, dass ich nicht ernst genommen wurde.
Mein Alter während des Gründungsprozesses bereitete mir nie Probleme.
Ein junges Alter kann im Gründungsökosystem ein erfrischender Vorteil sein, wird jedoch bislang viel zu oft als Makel betrachtet. Zwar kann sich knapp jeder zweite junge Mensch in Deutschland vorstellen, ein Unternehmen zu gründen, doch die Realität sieht anders aus: Nur 11 Prozent der Gründenden in Deutschland sind unter 24 Jahre alt. Im internationalen Vergleich ist das alarmierend wenig. Anstatt Ermutigung erleben viele junge Menschen Misstrauen, Skepsis und Zurückhaltung – nicht nur von Investor:innen, sondern auch im eigenen Umfeld.
Die Hürden sind tief verwurzelt: fehlendes Zutrauen ins eigene Können, das oft gesellschaftlich vermittelt wird, Unsicherheiten beim Markteinstieg sowie mangelndes Wissen über Finanzierung, Bürokratie und Netzwerke. Viele Programme richten sich an Menschen mit mehr Berufserfahrung und lassen junge Talente samt ihres einzigartigen Potenzials außen vor.
Dabei liegen gerade in jungen Gründenden enorme Chancen: hohe Technologieaffinität, ein natürlicher Zugang zu digitalen Trends und ein höheres Risikobewusstsein. Sie denken innovativ, agil und oft global. Genau das braucht es für ein zukunftsfähiges Gründungsökosystem. Solange Jugend mit Unerfahrenheit gleichgesetzt wird, bleiben viele dieser Ideen ungehört und wir verlieren die Gründer:innen von morgen.
Kommen wir nun aber zum letzten Statement unseres Experiments.
Machen Sie einen Schritt nach vorne, wenn sich Ihr Blick auf die Wirkungen des Gründungsökosystem verändert hat.
Hören Sie Schritte um sich herum – viele oder wenige? Gehen Sie gegebenenfalls selbst einen Schritt? Überlegen Sie einmal selbst. Sind es eher die Personen, die weiter vorne oder die Personen, die weiter hinten im Raum stehen?
Was zeigt uns der zurückgelegte Weg?
Nun sind die Aussagen zu Ende, aber unser Experiment ist noch nicht vorbei. Einige haben es beinahe an das andere Ende des Raumes geschafft, andere wiederum haben sich kaum von der Stelle bewegt.
Was bedeutet das für die Personen und was sagt es über das Gründungsökosystem aus? Wo stehen Sie selbst (gedanklich)? Vielleicht ganz vorne. Vielleicht aber auch ganz hinten. Vielleicht haben Sie kaum einen Schritt gemacht. Was löst der Blick nach hinten, nach vorne und zur Seite bei Ihnen aus? Beginnen wir mit der Reflexion.
Also, wer steht nun vorne?
Laut Studienergebnissen sollten es Männer ohne Migrationsbezug in ihren 30ern sein, die aus einer Akademiker:innen Familie kommen und selbst studiert haben. Dieses Bild spiegelt häufig auch die Realität wider. Aber spiegelt es auch unsere Gesellschaft wider?
„Haben Sie während des Walks gemerkt, wo Sie selbst und wo andere stehen?“
Privileg bedeutet natürlich nicht automatisch Schuld. Es bedeutet aber Verantwortung: Es bedeutet, anderen Menschen zuzuhören, sie zu unterstützen und unterschiedliche Lebenssituationen anzuerkennen.
Es geht nicht nur darum, wie wir individuell mit unseren eigenen Privilegien konstruktiv umgehen. Ebenso wichtig ist es, aufzuzeigen, welche Schritte Politik, Wissenschaft und Wirtschaft unternehmen müssen, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.
Betrachten wir den Privilege Walk als Anfang. Er kann der Wegbereiter für ein grenzenloses Gründungsökosystem sein. Mithilfe der folgenden Schritte werden wir zukünftig in die richtige Richtung gehen:
- Vielfältige Vorbilder sichtbarer machen
- Eigene Räume schaffen und die Öffnung von bestehenden Netzwerken anregen
- Mehr Diversität in Finanzierungs- und Entscheidungspositionen fördern
- Wissen über Entrepreneurship verbreitern
Von privilegierten Schritten zu geteilten Wegen
Gründen ist oft eine Frage des Kapitals – nicht nur von finanziellem Kapital, nicht nur sondern auch von kulturellem, sozialenm und symbolischem. Wer nicht dem Bild des „typischen Gründers“ entspricht, muss doppelt überzeugen: von der Idee und von sich selbst. Dabei darf Gründen keine Frage von Geschlecht, ethnischer und sozialer Herkunft oder Alter sein. Sie sollte eine Frage der Idee, der Motivation und der Vision sein.
Vielleicht sind diese die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Privilege Walk:
- Dass wir lernen, uns nicht nur umzusehen, sondern gemeinsam weiterzugehen.
- Dass wir nicht nur Barrieren erkennen, sondern sie abbauen.
- Dass wir nicht nur von Chancengleichheit sprechen, sondern sie ermöglichen.
Gründung braucht Vielfalt. Und Vielfalt braucht Gerechtigkeit. Das Ziel muss sein, ohne Grenzen gründen zu können.
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