Während die Welt von Konflikt zu Konflikt steuert, strebt die japanische Gesellschaft wie eh und je nach Harmonie im Inneren. Was in den 80iger Jahren Erfolgsfaktor war, wird in der globalisierten Welt jedoch zunehmend zum Hindernis. Sie schränkt Flexibilität und Offenheit ein, welche die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt dringend braucht, um innovativ zu bleiben. Schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie wuchs die japanische Volkswirtschaft nur noch um weniger als ein Prozent, während der Schuldenberg seit vielen Jahren so hoch wie in keinem anderen Land der Welt ist. Gleichzeitig hat Japan die am schnellsten alternde Bevölkerung: Es wird prognostiziert, dass die geringen Geburtenraten zu einem Bevölkerungsrückgang von über 15 Millionen Menschen in den nächsten 20 Jahren führen wird. Die Gesellschaft ist geprägt von starren Sozialstrukturen und einem scheinbar unüberwindbaren Glauben an Hierarchieordnungen. Dennoch werden gerade im Bereich neuer Technologien wie der künstlichen Intelligenz sehr viele neue Patente entwickelt, wie erst jüngst die Weltorganisation für geistiges Eigentum für 2019 verkündete. Wie innovativ reagiert Japan auf seine großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen?
Maßgeblich für die japanische Innovationskraft sind seine großen Konzerne. Nach dem Global Innovation Index 2019 geben Unternehmen in Japan im Verhältnis zu ihrem Umsatz weltweit am meisten Geld für Forschung und Entwicklung aus. Das japanische Statistikbüro weist an der Spitze der Forschungsinvestitionen Autohersteller wie Toyota, Honda und Nissan aus. Ihr Ziel, vernetzte, automatisierte und elektrifizierte Technologien weiterzuentwickeln. Bei den Patentanmeldungen belegt Mitsubishi den zweiten Platz weltweit und spielt so in einer Liga mit dem südkoreanischen Samsung und dem US-amerikanischen Qualcomm. Ebenso werden Milliarden im Bereich der Elektronik (Sony, Panasonic, Canon), dem neu zu entwickelnden 6G-Technologiestandard und in die Pharmaindustrie investiert. Die Zahlen lassen vermuten, dass Japan ein unglaublich innovatives Unternehmensklima hat.
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Konzernkultur: Wenn nur die Erfahrung zählt
Doch auch ein ganz anderer Ruf begleitet Japan immer mehr. Die Arbeitsproduktivität des Landes ist so gering wie in keinem anderen G7-Land. Was US-Amerikaner in acht Stunden an Wirtschaftsleistung produzieren, dafür brauchen Japaner 12 Stunden. Viel ist dazu geforscht worden und ein auffallender Faktor ist, wie viele Stunden Japanerinnen und Japanern in ihren Büros und Fabriken verbringen. Eine 2016 durchgeführte Studie fand heraus, dass ein Viertel der Firmen erwartet, dass die Mitarbeitenden mindestens 80 Stunden pro Woche arbeiten. Kulturell gibt es kaum einen anderen Weg, Karriere zu machen, als mehr Zeit als andere Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit zu verbringen. So hat Japan laut einer Studie aus dem Jahr 2009 im Vergleich zu China und Korea auch die mit Abstand ältesten und am schlechtesten ausgebildeten CEOs. Das kann passieren, wenn nur die Arbeitserfahrung – gemessen an den abgesessenen Stunden im Büro – zählt.
Wie tief verwurzelt diese Arbeitshaltung ist, zeigt sich auch in der geringen Wirkung eines im April 2019 eingeführten Gesetzes, dass die Überstunden pro Monat in großen Unternehmen auf 100 Stunden begrenzt. Man beachte: Die Überstunden – zusätzlich zu der normalen Arbeitszeit. Trotzdem sind Büros selbst am „No Overtime Day“ noch gut gefüllt. Der kulturelle Druck ist zu groß. Diese enorme Überarbeitung lässt Innovationskraft und Fantasie verkümmern, was sich wiederum auch im Global Innovation Index von 2019 zeigt, der für Japan sehr geringe Werte für „Creative Outputs“ ausweist.
Startups als Innovationsschub?
Ist stattdessen mehr Innovationskraft außerhalb der großen Unternehmen zu finden? Wie etwa in den vielen kleinen, disruptiven Startups der US-Küstenregionen oder zunehmend auch in Europa? In Japan wird erst seit wenigen Jahren ein Trend in diese Richtung beobachtet. Noch immer gibt es kaum Unternehmensgründungen und wenig Venture Capital. Die vorherrschende Risiko-Aversion zeigt sich auch darin, dass Gründerinnen und Gründer deutlich älter sind als in anderen Ländern. So wundert es nicht, dass laut Crunchbase keiner der weltweit 100 renommiertesten Startup Accelerators in Japan zu finden ist. Wie Keiko Hirata und Mark Warschauer in ihrem hervorragend recherchierten Buch ‚Japan – The Paradox of Harmony‘ beschreiben, lässt sich auch das durch eine Sozialisierung in einer auf Harmonie und Homogenität ausgerichteten Gesellschaft erklären, die keine Sonderlinge wünscht – auch wenn es im positiven Sinne wäre.
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Graumelierter Wissenschaftsbetrieb
Ähnliches ist laut der Recherche von Hirata und Warschauer auch im Wissenschaftsbetrieb zu sehen. Der Sozialpsychologe Richard Nisbett legt dar, dass in der japanischen Kultur der große Respekt vor dem Alter dazu führt, dass weniger individuelle Leistung und Ambitionen zählen, sondern Forschungsgelder oftmals an ältere Forschende gehen. Der Wunsch nach Debatten und Widerspruch sei in Japan ungewöhnlich gering ausgeprägt. Zu viel Harmonie in der Forschung ist aber nicht förderlich für wissenschaftliche Durchbrüche, da revolutionär neuartige Ansätze entweder gar nicht erst erdacht oder dann oftmals schnell verworfen werden. Laut einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung dominieren ältere Herren an der Spitze der Forschungslabore, die kaum miteinander kooperieren und auch international eher isoliert sind.
Doch ist die wenig verbreitete Diversität leider kein Sonderfall der Wissenschaft. Sowohl weibliche wie auch ausländische Perspektiven sind in Japan wenig präsent. So ist die soziale Position von Frauen in der Gesellschaft ausgesprochen niedrig. Laut des Global Gender Gap Index 2020 des World Economic Forums liegt Japan auf Platz 121 von 153 Plätzen, Tendenz weiter sinkend. Unter anderem verdienen danach japanische Frauen im Durchschnitt nur halb so viel wie Männer. Japan hat damit den mit Abstand größten Gender Gap aller industrialisierten Länder. Nur 15 Prozent der senioren Positionen oder Führungsjobs sind von Frauen besetzt, was nur noch durch die geringe Repräsentanz durch Frauen im Parlament mit einem Anteil von etwa 10 Prozent negativ getoppt wird.
Fehlende Diversität und Flexibilität
Auch die in vielen anderen Ländern beschworene Diversität durch qualifizierte Zuwanderung stößt in Japan vielfach auf verständnislose Ohren. Weder an den Universitäten noch in den Unternehmen sind viele Ausländerinnen oder Ausländer zu finden. Nur zwei der 127 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner Japans haben einen ausländischen Pass. Das passt damit zusammen, dass in Japan – trotz des sehr hohen Bildungsniveaus – im weltweiten Vergleich sehr schlecht Englisch gesprochen wird. Auslandssemester während des Studiums werden kaum genutzt, da man dann nicht an der jährlich im Frühling stattfindenden Bewerbungsrunde bei den großen Unternehmen teilnehmen kann. Wer am Ende dieses gefürchteten Schaulaufens keinen Job angeboten bekommt, kann leicht langfristig in prekäre Arbeitsverhältnisse abrutschen. Eine Auflockerung hat der überaus mächtige Unternehmensverband Keidanren 2019 angekündigt: So sollen ab 2022 auch mehrmals im Jahr Bewerbungsrunden stattfinden.
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Das ist ein Hoffnungsschimmer für Flexibilität, denn nach zwei Jahrzehnten Rezession ist der Arbeitsmarkt umkämpft wie nie und kaum ein junger Mensch hat das Privileg, sich nicht den strengen Unternehmensansprüchen anzupassen. So gibt es in Japan auch kaum Langzeitstudierende oder spätberufene Studienanfänger – nur zwei Prozent der Studierenden sind älter als 25 Jahre. Wenn man dann einen guten Job in einem großen Unternehmen bekommen hat, wird er oder sie mit großer Wahrscheinlichkeit ein Leben lang dort bleiben. Firmenwechsel werden oftmals als Illoyalität gewertet, und aufgrund der rigiden Sozialstruktur ist es kaum möglich, dass ein junges Talent ein Team von älteren Mitarbeitenden führt.
Heranschleichender Arbeitskräftemangel
Mit der Perspektive der stark alternden Bevölkerung und des prognostizierten Bevölkerungsrückgangs wird deutlich, dass es in Zukunft zu wenige Arbeitskräfte geben wird. Bereits heute sind 28,1 Prozent der Japaner über 65 Jahre alt. Bis 2060 sollen es fast 40 Prozent sein. Da in den vergangenen Jahren die weibliche Erwerbsquote deutlich gestiegen ist, werden zusätzlich noch weniger Kinder geboren. Japan wehrt sich allerdings im Sinne der Erhaltung seiner homogenen Bevölkerung, eine Arbeitsmigration zu fördern, die diese Lücke schließt. Bereits ein auf wenige Tausend Personen pro Jahr begrenztes Pflegekräftezuwanderungsprogramm war umstritten.
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Ausweg technologische Lösungen?
Diese wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen sind natürlich auch der japanischen Regierung sehr bewusst. Als Antwort darauf hat sie vor wenigen Jahren die Strategie Society 5.0 vorgestellt, die Japan zu einer super-smarten Gesellschaft machen soll. Darin wird ausbuchstabiert, wie innovative Technologien alle Lebensbereiche durchdringen und so gesellschaftliche Herausforderungen lösen können. Während in anderen Ländern große Sorge herrscht, dass Maschinen den Menschen Arbeitsplätze wegnehmen könnten, setzt Japan darauf große Hoffnungen. Es werden enorme Forschungsgelder in die Weiterentwicklung von Robotik, künstlicher Intelligenz und dem Internet der Dinge gesteckt, um so die schrumpfende Erwerbsbevölkerung auszugleichen. So sollen Digitalisierungen im Gesundheitssystem, in der Mobilität, in der Infrastruktur und im FinTech-Bereich zu einem bequemeren und nachhaltigeren Leben beitragen.
Zu Gute kommt dem Land, dass eine große kulturelle Offenheit gegenüber Technologie besteht. 118 der 127 Millionen Menschen nutzen das Internet. Die Firma Gatebox hat einen virtuellen 3D-Assistenten auf den Markt gebracht, der für einige Nutzer zur festen Freundin geworden ist. Über 3700 Japaner sind sogar noch einen Schritt weitergegangen und haben das Hologramm einer Fantasie-Animee-Figur geheiratet. Sony hat den Roboter-Hund Aibo für den japanischen Markt entwickelt, der immer genauer die Bewegungen und Mimik echter Vierbeiner nachmachen kann. Die Bereitschaft der Bevölkerung, sich auf die technologischen Veränderungen einzulassen, ist groß. Auch die Regierung hat erkannt, dass die Förderung von Startups und Mittelständlern wichtig ist, um neue und innovative Ideen zu fördern. Die Corona-Pandemie führt zum Umdenken beim flexiblen Arbeiten und könnte so auch langfristig einen Einfluss auf die Arbeitsmentalität haben. So bleibt es spannend zu beobachten, ob aus dem Wunsch nach einer modernen Gesellschaft auch eine kulturelle Veränderung hin zu mehr Offenheit und Flexibilität angestoßen wird, die Innovation bestärken würde.
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