In Berlin trafen sich vor kurzem führende Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zum Nationalen Produktivitätsdialog. Veranstalter waren der
und die Europäische Kommission in Deutschland, unter ihnen als Vorsitzender des Sachverständigenrates Professor Christoph M. Schmidt. Im Interview mit Dr. Marcus Wortmann aus dem Team Nachhaltig Wirtschaften der Bertelsmann Stiftung erläutert Professor Schmidt das schwächelnde Produktivitätswachstum und die Ziele des Nationalen Produktivitätsdialogs.Herr Professor Schmidt, der „Nationale Ausschuss für Produktivität in Deutschland“ geht zurück auf eine Empfehlung des Europäischen Rates. Jedes EU-Land soll eine Institution mit der Analyse von Entwicklungen und Herausforderungen im Bereich der wirtschaftlichen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit betrauen. In Deutschland liegt die Verantwortlichkeit dafür beim Sachverständigenrat, dessen Vorsitzender Sie sind. Können Sie uns erklären, wozu ein solcher Ausschuss benötigt wird?
Christoph M. Schmidt: Wie in vielen entwickelten Volkswirtschaften ist das Produktivitätswachstum in Deutschland und in der EU insgesamt seit Längerem rückläufig. Diesen Trend nach Möglichkeit umzukehren, ist angesichts des demographischen Wandels eine der zentralen wirtschaftspolitischen Herausforderungen. Aufgabe der nationalen Ausschüsse für Produktivität ist es, die Ursachen der schwachen Produktivitätsentwicklung zu analysieren und Wege zu einem höheren Wachstum aufzuzeigen. Dabei sind eine gesamtwirtschaftliche Sichtweise und detaillierte Analysen in spezifischen Themengebieten ebenso wichtig wie eine breite Diskussion und Konsultation der Institutionen und Öffentlichkeit. Dies alles sind Aufgaben, die der Sachverständigenrat bereits seit Jahrzehnten erfüllt.
Das aktuelle Gutachten des Sachverständigenrates enthält eigens ein Kapitel zur Produktivitätsentwicklung in Deutschland, den Nationalen Produktivitätsbericht 2019. Wie dramatisch ist die Lage, auch im internationalen Vergleich?
Christoph M. Schmidt: Zurzeit stagniert die gesamtwirtschaftliche Produktivität. Verringert wird die gemessene Produktivität dabei zum Teil durch die konjunkturelle Eintrübung bei gleichzeitig robustem Arbeitsmarkt. Betrachtet man einen längeren Zeitraum, verbessert sich zwar das Bild, aber es zeigt sich doch ein anhaltender Rückgang des Produktivitätswachstums. Seit der Jahrtausendwende lagen die Zuwachsraten durchschnittlich bei kaum mehr als 1 Prozent. Die gute Arbeitsmarktentwicklung hat diese Schwäche mit ihrem positiven Beitrag zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den vergangenen Jahren überdeckt. Mit fortschreitendem demographischem Wandel dürften die schwachen Produktivitätsfortschritte dann wieder stärker in niedrigen Wachstumsraten des BIP zu erkennen sein.
Deutschland steht mit dieser Entwicklung im internationalen Vergleich nicht alleine da. In fast allen entwickelten Volkswirtschaften fallen die Produktivitätssteigerungen immer geringer aus. Für die Wirtschaftspolitik ist diese Tatsache gleichwohl kein Grund, auf nationaler Ebene untätig zu sein.
Was sind die Hauptursachen dieser Entwicklungen?
Christoph M. Schmidt: Eine der wichtigsten Ursachen dürfte die verringerte Innovationsrate sein, was angesichts der allgegenwärtigen technischen Neuerungen und zunehmenden Digitalisierung verwundern mag. Es gibt verschiedene Erklärungen, dieses Produktivitätsparadoxon aufzulösen, aber bislang keine vollends überzeugende. Eine wichtige Rolle könnten etwa Verzögerungen bei der Nutzung neuer Technologien spielen, weil Unternehmensprozesse erst entsprechend angepasst werden müssen. Daneben ist in Deutschland der Zusammenhang zwischen Alterung und Produktivitätswachstum von Bedeutung. In einer älteren Bevölkerung sinkt wahrscheinlich die Bereitschaft, ein Unternehmen zu gründen. Das würde sich wiederum negativ auf die wirtschaftliche Dynamik und die Innovationsfähigkeit auswirken.
© Foto: Jorge Guillen – Pixabay
Christoph M. Schmidt: Die entscheidende Quelle des Produktivitätswachstums ist die Fähigkeit von Unternehmen, mittels Innovation erfolgreich auf nationalen wie globalen Märkten tätig zu sein. Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es, günstige Rahmenbedingungen hierfür zu setzen. Dies schließt ein wettbewerbsfähiges Steuersystem ebenso ein wie eine leistungsfähige Infrastruktur. Keineswegs sollte die Politik versuchen, einen Strukturwandel, wie er sich vielerorts verstärkt bemerkbar macht, aufzuhalten. Vielmehr gilt es etwa im Hinblick auf die Wettbewerbspolitik, Wandel zuzulassen und zugleich die Menschen zu befähigen, diesen zu meistern.
Neben dem Ziel, die wirtschaftliche Produktivität wieder insgesamt zu steigern, geht es auch um die Frage, wo Produktivitätszuwächse entstehen. Hier zeigen sich bereits heute sowohl regional als auch zwischen den Unternehmen und Branchen teils erhebliche Divergenzen. Sehen sie hierin Gefahren für die Wohlstandsverteilung?
Christoph M. Schmidt: Dieses Phänomen der divergierenden Produktivitätsentwicklung ist keineswegs neu und liegt im Wesen des kontinuierlichen technologischen Wandels. Mitunter stehen sogar diejenigen Personen vor den größten Herausforderungen, die in den Branchen oder Unternehmen mit größten Produktivitätszuwächsen arbeiten. Neue, produktivere Maschinen oder Prozesse erfordern beispielsweise andere Arten von Wissen und Fähigkeiten und führen dazu, dass in der Vergangenheit erworbenes Humankapital entwertet wird. Die Lösung besteht allerdings nicht darin, diesen Wandel aufzuhalten, sondern den Betroffenen zu helfen, sich anzupassen, etwa indem man berufliche Weiterbildung sowie lebenslanges Lernen fördert.
Wie kann es gelingen, dass insbesondere kleine und mittlere Unternehmen und der ländliche Raum nicht den Anschluss verlieren?
Christoph M. Schmidt: Damit Unternehmen die Innovationen der Digitalisierung nutzen können, ist eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur notwendig. Gerade in diesem Bereich steht Deutschland allerdings im internationalen Vergleich nicht gut da. Eine Verbesserung insbesondere im ländlichen Raum dürfte die Verbreitung digitalisierter Prozesse und Geschäftsmodelle begünstigen. Weiterhin dürfte der Ausbau der digitalen Infrastruktur die Innovationsfähigkeit der ländlichen Regionen erhöhen. Diese Fähigkeit ist schließlich in der heutigen Wissensgesellschaft zentral für den wirtschaftlichen Erfolg.
Kleineren und mittleren Unternehmen dürfte zugutekommen, dass Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT), die bisher oft mit hohen Fixkosten verbunden waren und somit von diesen Unternehmen nicht genutzt wurden, zunehmend als Service mit deutlich geringeren Fixkosten angeboten werden, beispielsweise über Cloud-Lösungen.
Immer wieder ist die Rede von „Europäischen Champions“. Zugleich beobachtet man aber insbesondere in den USA die Tendenz, dass große Unternehmen nach dem Prinzip „The winner takes it all“ agieren und in einigen Marktsegmenten die Produktivitätsentwicklung prägen, während der große Rest abgehängt bleibt. Sehen Sie hier auch Gefahren für Europa, wenn sich sogenannte „Superstar“-Firmen behaupten?
Christoph M. Schmidt: In einigen Branchen dürfte diese Entwicklung auf technologische Veränderungen zurückzuführen sein, da sich etwa im Dienstleistungsbereich im Zuge der Digitalisierung zunehmend Geschäftsmodelle und -prozesse etabliert haben, die einen hohen Fixkostenanteil haben und somit konzentriertere Marktstrukturen begünstigen. Insofern dies technologisch bedingt ist, besteht eine Gefahr zunehmender Konzentration auch in Europa. Es ist Aufgabe der europäischen Wettbewerbskontrolle diesen Tendenzen zu begegnen. Die politische Begünstigung von „Champions“ unter Umgehung der Wettbewerbskontrolle ist dagegen kritisch zu sehen. Der Wettbewerb mehrerer Unternehmen führt nicht nur zu niedrigeren Preisen, sondern gibt auch Innovationsanreize.
Studien zeigen, dass insbesondere in kleinen und mittleren deutschen Unternehmen zu wenig investiert und innoviert wird, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Woran liegt das?
Christoph M. Schmidt: In der Natur von Investitionen in Forschung und Entwicklung liegt, dass der Erfolg der resultierenden Innovation ungewiss ist und sie daher sehr risikobehaftet sind. Kleine Unternehmen, die nur einzelne Forschungsprojekte verfolgen können, haben im Vergleich zu größeren Unternehmen weniger Möglichkeiten, dieses Risiko durch Risikostreuung zu verringern. Diese Risikostreuung könnte gerade bei jungen innovativen Unternehmen durch Risikokapitalgeber übernommen werden, die in verschiedene Unternehmen gleichzeitig investieren und somit den Misserfolg einzelner Investitionen besser ausgleichen können. Besonders für Unternehmen in der Wachstumsphase steht jedoch in Deutschland eher wenig privates Risikokapital zur Verfügung, das diese Funktion übernehmen könnte.
Am 10. Februar veranstaltet der Sachverständigenrat zusammen mit der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland den Nationalen Produktivitätsdialog. Mit wem wird dieser Dialog geführt und mit welchem Ziel?
Christoph M. Schmidt: Dieser Dialog schließt verschiedene Akteure aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft mit ein. Ziel ist es, diejenigen zusammen zu bringen, die sich mit Produktivität im weiteren Sinne beschäftigen. Der Dialog soll vor allem die gesamte wirtschaftspolitische Dimension des Themas so gut wie möglich umfassen, von der Bildungs- und Forschungspolitik über die Fiskal- und Arbeitsmarktpolitik bis hin zur Wettbewerbs- und Handelspolitik. Wünschenswert wäre, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Anregungen und Ideen aus den Diskussionen gewinnen können, die dazu beitragen, in Deutschland bessere Wachstumsbedingungen zu schaffen.
Ein Blick in die Glaskugel: Wie produktiv und wie inklusiv ist die deutsche Wirtschaft zur Mitte des Jahrhunderts?
Christoph M. Schmidt: Prognosen über einen so langen Zeitraum sind seriös kaum möglich. Aber es zeichnen sich zwei große Herausforderungen für Deutschland in den kommenden Jahrzehnten ab. Zum einen stellt der demographische Wandel bereits in den nächsten Jahren die sozialen Sicherungssysteme vor eine Belastungsprobe. Zum anderen dürfte die Klima- und Energiepolitik den Einsatz von erheblichen volkswirtschaftlichen Ressourcen erfordern. Gerade die klimapolitischen Herausforderungen werden nur mit Innovationen und mit einem starken marktwirtschaftlichen Rahmenwerk erfolgreich bewältigt werden können.
Produktivitätssteigerungen sind nicht nur der entscheidende Faktor für materiellen Wohlstand. Sie erweitern zudem die Handlungsspielräume und ermöglichen es damit Menschen, verschiedenste Lebensentwürfe zu realisieren. Die wirtschaftspolitische Diskussion sollte daher im Sinne einer möglichst freiheitlichen Gesellschaft immer auch die größeren individuellen Entfaltungsmöglichkeiten im Blick behalten, die ein höheres Produktivitätsniveau ermöglicht.
Kommentar verfassen