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Dr. Jens-Uwe Meyer
26. April 2021

Der Mittelstand muss gar nicht viel verändern, um sich zu verändern 

Was ist angesichts der rasanten Veränderungen in mittelständischen Unternehmen erfolgversprechender: Ein Management von agilen Innovatoren oder die Bewahrer und Verstetiger der langwierig erkämpften Erfolgsbasis?

Ach, wäre man doch so jung und flexibel wie ein Start-up. So agil und so modern, so digital und innovativ. Dieser Wunsch ist angesichts der fortschreitenden Digitalisierung aktuell in vielen Unternehmen zu verspüren. Doch im gleichen Moment melden sich andere Stimmen zu Wort: „Man darf das Erreichte doch nicht gefährden.“ „Start-ups sind zwar jung und agil, dafür aber auch überdurchschnittlich oft pleite.“ „Und die bestehenden Strukturen haben sich doch bewährt.“

Wer hat Recht? In dieser Frage offenbart sich ein Dilemma des deutschen Mittelstandes: Die Welt verändert sich immer rasanter, der Druck zur digitalen Transformation ist durch die Corona-Krise angestiegen, der Wandel ist spürbar. Und zugleich ist es das Bewährte, was momentan Umsatz und Gewinne einfährt. Die Lösung liegt darin, das Bewährte neu zu nutzen.

Abschied von den alten Wahrheiten

In fast allen Unternehmen, mit denen wir arbeiten, gibt es zwei sich gegenüberstehende Gedankengerüste: Die einen wollen erneuern, die anderen möchten bewahren. Positiv ausgedrückt gelten die Erneuerer als Visionäre, Innovatoren oder digitale Vordenker. (Die männliche Form schließt hier die weibliche natürlich mit ein.) Die Bewahrer sind die Qualitätssicherer, die Umsatzgaranten oder die, die „den Laden am Laufen halten“.

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Negativ ausgedrückt sind die Erneuerer die „Spinner“, die Bewahrer gelten als „Bedenkenträger“. Visionäre gegen Bewahrer, Spinner gegen Bedenkenträger. Wer hat Recht? In Zeiten eines sich dauerhaft und schneller verändernden Marktes gibt es hier eine einfache Antwort: beide. Beide Wahrheiten gelten parallel. In der Wissenschaft wird dies das Prinzip der „Ambidextrie“ genannt. Das eine tun ohne das andere zu lassen.

Bewahren und erneuern: Der schwierige Spagat

Wie lässt sich Ambidextrie in der Praxis leben? Die Antwort: Alles, was der Mittelstand braucht, um diesen Widerspruch zu lösen, befindet sich bereits im Unternehmen. Es muss nur neu interpretiert werden.  

Beispiel Qualitätsmanagement: Unternehmen, die nach ISO 9001:2015  arbeiten, verfügen bereits über das perfekte Managementsystem für den Wandel Laut ISO 9001 gilt es zum Beispiel, das Umfeld des Unternehmens (Kundenbedürfnisse, technologische Entwicklungen, aber auch gesellschaftliche Trends) zu analysieren und daraus eine sogenannte „Qualitätspolitik“ abzuleiten. Diese in vielen Unternehmen bewährte Logik muss nicht abgeschafft werden.  Dies bedeutet:

  • Die Qualitätspolitik kann darin bestehen, den Ausschuss in der Produktion kontinuierlich zu reduzieren.  
  • Sie kann aber auch darin bestehen, neue prototypische digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln.  

Die gleiche Logik gilt, wenn es darum geht, aus der Qualitätspolitik sogenannte „Qualitätsziele“ zu formulieren. Das bedeutet:

  • Ein Ziel kann darin bestehen, die Ausschusszahlen je Schicht um drei Prozent zu senken oder die Kosten eines bestimmten Verwaltungsprozesses um fünf Prozent zu senken.  
  • Genauso aber können Qualitätsziele darin bestehen, bis zum Jahresende fünf prototypische digitale Serviceangebote zu entwickeln, bei Kunden und Kundinnen vorgestellt und getestet zu haben.  

Und auch der kontinuierliche Verbesserungsprozess im Unternehmen kann unterschiedlich interpretiert werden. Die eher traditionelle Interpretation ist auf konkrete Prozesse beschränkt: hier etwas weniger Material verbrauchen, dort die Arbeitsabläufe verschlanken etc. Aber nichts hält Unternehmen davon ab, im Rahmen des bestehenden Qualitätsmanagements auch Innovationen voranzutreiben. Wer sich mit Normen wie ISO 9001 intensiv auseinandersetzt, wird ohnehin feststellen: Es steht in der Norm ausdrücklich drin.

 

 

Innovative Milieus in Deutschland, 2019 - Anteil in Prozent aller Unternehmen

Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung über die Innovationskraft der deutschen Unternehmen offenbart große Ungleichgewichte. Nur wenige verfügen aktuell über die nötige Innovationskompetenz, Innovationsorganisation und Innovationskultur, um ihre Wettbewerbsposition auch langfristig zu sichern.

Das Bestehende neu interpretieren statt alles neu zu erfinden

Beratungsunternehmen leben davon, dass sie ihren Kunden und Kundinnen regelmäßig neue Konzepte vorstellen. Und so sind in den vergangenen Jahren unzählige neue Ansätze zur digitalen Transformation und zur Innovation entstanden.  

Eines der Hauptprobleme dieser neuen Konzepte war jedoch: Sie lösten innerhalb von Unternehmen genau den Widerspruch aus, der eingangs beschrieben wurde. Plötzlich standen sich Visionäre und Qualitätssicherer gegenüber – oder wahlweise Spinner und Bedenkenträger. Diesen Widerspruch gilt es zu lösen. Beides ist gleich wichtig.  

Um im Tempo der Veränderung mithalten zu können, braucht es sogar beide. Wenn die Umsatzgaranten nicht dafür sorgen, dass mit dem Bewährten Geld verdient wird, haben die Erneuerer keine Ressourcen, um Innovation voranzutreiben.  

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