Die Bewertung von Start-ups ist eine komplexe Aufgabe. Investor*innen und Entscheidungsträger*innen analysieren eine Vielzahl von Kriterien, um das Potenzial und die Erfolgsaussichten eines Start-ups zu bewerten. Laut der zugehörigen wissenschaftlichen Literatur können dabei neben den objektiven Kennzahlen des Businessplans auch die subjektive Bewertung der Personality des oder der CEO – wenn auch nur unterbewusst – eine Entscheidungsfindung erheblich beeinflussen.
Was ist „die Personality“?
Die Personality umfasst eine Vielzahl von Aspekten, die beeinflussen, wie eine Person gelesen und wahrgenommen wird. Dazu gehören Charaktereigenschaften wie das Handeln und Auftreten einer Person. Dazu zählen, für die Start-up-Welt ganz entscheidend, auch die Kommunikationsfähigkeit oder das Charisma. Auch das äußere Erscheinungsbild fällt unter die Definition von „Personality“, dazu gehören beispielsweise Gender oder Kleidungsstil. Entscheidend ist also, wie sich ein:e Gründer:in ganzheitlich präsentiert.
Investor:innen haben häufig eine bestimmte Erwartung an die Gründer:innen, eine feste Vorstellung von ihren Eigenschaften. Sie haben die Vorstellung einer Personality. Wie aber entsteht diese simplifizierte Erwartungshaltung? Die Antwortet lautet: Stereotypen.
Stereotypen kennen wir alle. Beispielsweise: „Alle Deutschen sind immer pünktlich“. An diesem Satz erkennt man auch schnell das entscheidende Problem an Stereotypen: Sie sind verallgemeinernd. Denn Stereotypen beruhen auf Eigenschaften, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ableiten lassen, anstatt die einzelne Person mit ihren Eigenschaften als Individuum zu betrachten. Man ist also pünktlich, weil man deutsch ist, und nicht pünktlich, weil man als Individuum diese Eigenschaft hat.
Wenn man zu der Gruppe „Gründer:innen“ gehören möchte, muss man auch ganz bestimmte Stereotypen erfüllen – Stereotypen, die von den Investor:innen oder Juror:innen auf das Individuum projiziert werden. Folglich verzerren diese die Wahrnehmung und Handlung der Entscheidungsträger:innen in konkreten Entscheidungssituationen.
Welche Rolle spielen Stereotype bei der Bewertung eines Unternehmens?
Stereotypen können sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Bewertung eines Start-ups haben und somit auch den Zugang zu wichtigen Ressourcen und emotionaler Unterstützung beeinflussen – möglicherweise völlig unverdient. Positive Stereotypen, wie etwa das Bild des charismatischen und visionären Unternehmers, können dazu führen, dass bestimmte Gründer:innen bevorzugt werden. Negative Vorurteile hingegen, die beispielsweise auf Gender oder Migrationshintergrund basieren, bewirken oft, dass talentierte Gründer:innen benachteiligt werden.
Diese Form der reinen Diskriminierung nach Gender und Migrationshintergrund gilt es aus dem Start-up-Sektor zu tilgen.
Es stellt sich also die Frage, ob Investor:innen Gründer:innen danach beurteilen dürfen, wie er oder sie auftritt – oder sogar danach bewerten sollten. Es lässt sich in jedem Fall kaum vermeiden. Denn unterbewusst passiert dies auch den erfahrensten Investor*innen oder Juror*innen – eine Entscheidung ist laut psychologischer Erkenntnisse nach wenigen Millisekunden schon gefällt.
Als Gründer:in geboren?
Im Gründungssektor ist der Schlüssel zum Erfolg, Aufmerksamkeit zu gewinnen – und dass ab Sekunde 1 des Pitches. Am besten gelingt dies, wenn man das Publikum auf der emotionalen Ebene anspricht. Die Leidenschaft sowie das Engagement für die Geschäftsidee müssen für das Publikum greifbar werden. Die Zahlen und Fakten in den Anfängen der Gründungsphase sind häufig nur vage Schätzungen oder Prognosen. Daher ist eine mitreißende Story umso entscheidender für das Wachstumsversprechen an Investor:innen.
Eine gute Story hat vermutlich jede:r Gründer:in – die Frage ist aber, wie die Story zu einer mitreißenden Story wird, wie gut er oder sie diese am Ende verkaufen kann. Diverse Softskills, wie z.B. Rhetorik, werden meist im sozialen Umfeld einer Person erlernt. Dabei spielen Familie und Schule – die soziale Herkunft – eine wichtige Rolle.
Denn damit verbunden ist häufig auch die Freizeitgestaltung und damit, wen man dabei kennenlernt und welche Etikette bei diesen Treffen gilt. Kurz gesagt, es macht einen Unterschied, ob man jeden Sonntagnachmittag auf dem Golfplatz steht und gelegentlich im Michelin-Stern-Restaurant essen geht oder die meiste Zeit auf dem Skaterplatz nebenan verbringt. Diese unterschiedlichen Erfahrungen tragen dazu bei, dass sich Chancenungerechtigkeiten und Netzwerkvorteile manifestieren.
Manche Gründer:innen mögen durch ebendiesen Hintergrund und viel Übung von klein auf erhebliche Vorteile bei ihren Präsentations-Skills haben. Dies spiegelt sich nicht selten auch in der Körpersprache wider – sie strahlen ein besonderes Selbstbewusstsein aus. Dies wirkt mit großer Sicherheit positiv auf die Investor:innen, während Gründer:innen mit beispielsweise einem weniger privilegierteren Hintergrund sich womöglich eingeschüchtert fühlen könnten – und genau hier kann und sollte man ansetzen.
Maßnahmen für mehr Chancengleichheit
Gründer*innen werden also geboren, nicht gemacht – heißt es oft in der Forschung. Die Personality ist entscheidend für die Gründungsintention, für den Pitch und auch für das langfristige Bestehen und das Wachstum eines Unternehmens. Und genau diese Personality wird einem in die Wiege gelegt – oder eben nicht. Aber müssen wir das so hinnehmen? Oder gibt es Möglichkeiten, Gründer:innen, denen es lediglich an den Softskills mangelt, zu unterstützen?
Für ein Start-up-Ökosystem mit mehr Chancengerechtigkeit sind verschiedene Maßnahmen denkbar:
- Mehr Bildungsangebote für alle: Softskills wie Kommunikation, Rhetorik und Präsentation sollten integraler Bestandteil der allgemein-zugänglichen Bildung sein, um mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen.
- Diskriminierung bekämpfen: Aufklärung und Austausch sind essenziell, um Vorurteile bspw. gegenüber Gender oder Migrationshintergrund abzubauen. Außerdem sollte es vermieden werden, mit Stereotypen aufgeladene bzw. dafür anfällige Kriterien wie Namen oder Fotos in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
- Faktenbasierte Entscheidungen: Erste Entscheidungen sollten auf Fakten wie beispielsweise einem Businessplan basieren, bevor in einem zweiten Schritt auch die Persönlichkeit in die Bewertung einfließt. Das hilft dabei, objektive und faire Entscheidungen zu treffen.
Die genannten Maßnahmen sind jedoch nicht immer vollständig umsetzbar oder in jedem Kontext sinnvoll. Eine Balance zwischen faktenbasierten Entscheidungen und der Berücksichtigung der Persönlichkeit des Gründers oder der Gründerin ist entscheidend, um das Potenzial eines Unternehmens realistisch bewerten zu können, gleichzeitig aber auch mehr Chancengerechtigkeit im deutschen Start-up-Ökosystem zu fördern.
Kommentar verfassen