Der deutsche Arbeitsmarkt steht am Beginn einer tiefgreifenden Transformation. Zwar ist Strukturwandel kein neues Phänomen: Der sektorale Übergang von Industrie zu Dienstleistungen begleitet moderne Volkswirtschaften seit Jahrzehnten. Doch die gegenwärtige Dynamik ist durch Faktoren geprägt, die bereits jetzt eine Beschleunigung der Transformation bewirken.
Digitalisierung und fortschreitende Automatisierung, Dekarbonisierungsanstrengungen, veränderte geopolitische Rahmenbedingungen und nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit sowie die demografische Alterung überlagern sich heute in einer Weise, die sowohl Arbeitsmarktstrukturen als auch das zukünftige Innovations- und Produktivitätswachstum grundlegend verändert.
Welche langfristigen Trends zeichnen sich ab? Was sind die aktuellen Treiber des Wandels? Und wie prägen die entstehenden Arbeitsmarktverschiebungen die Wachstums- und Innovationsaussichten Deutschlands?
Von der Industrie zur wissensintensiven Ökonomie
Betrachtet man die Verteilung der deutschen Bruttowertschöpfung seit den 1970er Jahren, so zeigt sich im internationalen Vergleich ein bemerkenswert stabiler Industrieanteil: Während in den USA oder Großbritannien der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes schon über Jahrzehnte zurückgeht, hielt sich Deutschlands Industrieanteil lange bei rund 20 Prozent.
Ein ähnliches Bild zeigt sich für die absolute Beschäftigung, während die Beschäftigungsanteile der Industrie im Verhältnis zu den Dienstleistungen zurückgingen. Doch hinter dieser scheinbaren Stabilität verbirgt sich ein grundlegender Wandel der Tätigkeitsstrukturen.
In einer aktuellen Analyse zeigen wir, dass sich Beschäftigung nicht nur zwischen Sektoren, sondern auch innerhalb von Berufen verändert: Die von Beschäftigten ausgeübten Tätigkeiten werden dienstleistungsorientierter, wissensintensiver und weniger routinebasiert. Das liegt sowohl an einer Verschiebung zwischen Berufsgruppen sowie einer Tätigkeitsverlagerung innerhalb von Berufen selbst. Nur zwei Drittel des Beschäftigungsrückgangs im Verarbeitenden Gewerbe gehen auf klassischen Strukturwandel zurück.
Diese Verschiebung ist eng verknüpft mit der zunehmenden Bedeutung von analytischen und interaktiven nicht-routine Tätigkeiten. Während erstere hauptsächlich von gut qualifizierten Personen ausgeübt werden, zeichnen sich vor allem geringqualifizierte Dienstleistungsberufe durch interaktive nicht-routine Tätigkeiten aus. Daraus resultiert eine Polarisierung des Arbeitsmarktes: Wachstum an den Enden der Qualifikationsskala und Schrumpfen im mittleren Bereich.
Parallel dazu beobachtet man einen Trend zur verstärkten Wertschöpfung durch Dienstleistungen innerhalb aller Branchen, also einer stärkeren Verzahnung von Industrie mit dienstleistungsnahen Aktivitäten wie F&E, aber zum überwiegenden Teil weniger innovative und produktivitätssteigernde Tätigkeiten wie Wartung oder datengetriebene Services.
Allerdings zeigt sich bei einer genaueren Betrachtung auch, dass viele als produktionsnah verstandene Tätigkeiten bzw. Berufe in Dienstleistungsbranchen stattfinden. Etwa zwei Drittel der zwischen den Jahren 1975 und 2019 in den alten Bundesländern verlorenen Industriearbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe wurden durch neue produktionsnahe Berufe im Dienstleistungssektor ausgeglichen – allein der Tatsache geschuldet, dass für solche Berufe auch in den Dienstleistungsbereichen eine Nachfrage besteht und diese Bereiche Beschäftigung aufbauen.
Die Transformation des Arbeitsmarkts bedeutet also nicht primär ein Verschwinden von Tätigkeiten, vielmehr besteht eine vielschichtige Verlagerung zwischen Tätigkeiten, Berufsprofilen und Qualifikationen der Beschäftigten.
Treiber des Strukturwandels und ihre Arbeitsmarkteffekte
Die aktuellen Transformationstreiber der Digitalisierung und KI, Dekarbonisierung, geopolitischer Veränderungen und der fortschreitenden demografischen Entwicklung wirken gleichzeitig und verstärken sich wechselseitig. Sie tragen in nicht unerheblicher Weise zur Veränderung von Beschäftigungsstrukturen, Arbeitsinhalten und Tätigkeiten bei und haben eine zunehmende Notwendigkeit zur Reallokation von Arbeitskräften zur Folge, beispielsweise zwischen Wirtschaftszweigen.
Die Digitalisierung verschiebt Tätigkeiten von Routineaufgaben hin zu Tätigkeiten, die Problemlösung, Kommunikation und komplexe Informationsverarbeitung erfordern. Die sich ausbreitende Nutzung von KI wird, anders als vorherige Automatisierungs- und Digitalisierungswellen, zunehmend Auswirkungen auf Berufsfelder mit hoch-komplexen Tätigkeiten haben.
Auch dürften in überwiegendem Maße Dienstleistungen von KI-Anwendung betroffen sein. Betroffenheit wirkt sich dabei durch unterschiedliche Kanäle aus: Zum einen sind bereits heute viele Aufgaben durch KI ersetzbar. Arbeitskraft kann also durch verstärkte Nutzung von KI-Tools substituiert werden. Zum anderen bestehen durch KI produktivitätssteigernde Effekte. Und letztlich dürften durch die Weiterentwicklung von KI neue Tätigkeiten und Berufsprofile entstehen.
Die Dekarbonisierung von Produktionsprozessen wird sektorale Reallokation nach sich ziehen. Während auf energieintensive Industrien Druck besteht, der bei Nicht-Gelingen zu Beschäftigungsabbau führen wird, entsteht neue Beschäftigung vor allem in wissensintensiven Dienstleistungsbereichen, Planung, Forschung und technischen Dienstleistungen – Bereichen die komplementär zur Dekarbonisierung sind und sich durch hohe Qualifikationsintensität auszeichnen.
Exportorientierte Industriebranchen stehen zunehmend unter Druck. Gleichzeitig verändern sich die Anforderungen an Tätigkeiten, da die globalen Prozesse stärker von wissensintensiven Dienstleistungen, logistischer Kompetenz und technologischen Fähigkeiten abhängen. Diese Verschiebungen erhöhen einerseits den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, andererseits beschleunigt die nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit die Reallokation innerhalb und zwischen Branchen.
Zuletzt drückt der Eintritt der Babyboomer in den Ruhestand das Arbeitsangebot massiv. Das Produktionspotenzial wird aufgrund der demografischen Entwicklung bis mindestens Mitte der 2030er-Jahre kaum wachsen.
Was der Strukturwandel für die Produktivitätsentwicklung bedeutet
Der Strukturwandel und die Transformation am Arbeitsmarkt sind eng mit der Debatte um das schwache Produktivitätswachstum verbunden. Bereits seit den 2000er Jahren ist die TFP-Dynamik rückläufig. Der Anteil hochproduktiver Industriezweige schrumpft, während viele Dienstleistungen nur geringe Produktivitätsfortschritte verzeichnen.
Dieser Strukturwandel hat das Produktivitätswachstum Deutschlands seit 1970 jährlich um rund 0,25 Prozentpunkte verringert. Besonders problematisch ist die Produktivitätsschwäche im Bereich der geschäftsnahen und wissensintensiven Dienstleistungen. Trotz hoher Beschäftigungszuwächse stagniert die Produktivitätsentwicklung in diesen Bereichen.
Eine große offene Frage lautet daher: Kann KI den Produktivitätsturbo zünden? Zukünftige Produktivitätsgewinne dürften stark von der Fähigkeit abhängen, KI-Technologien flächendeckend in Dienstleistungen zur Anwendung zu bringen. Eine Herausforderung, die hohe Investitionen und digitale Infrastruktur erfordert.
Das niedrige Arbeitsvolumen, sinkende Arbeitszeiten und adverse Demografie werden das Produktionspotenzial weiter dämpfen. Ohne kräftige Produktivitätsimpulse droht eine langanhaltende Phase schwachen Wachstums.
Auch die Dekarbonisierung von Produktionsprozessen dürfte zunächst zu Produktivitätseinbußen und notwendigen Lerneffekten führen. Die Verschiebung der Arbeitsnachfrage hin zu mehr analytischen und höher qualifizierten Beschäftigten macht eine nachhaltige Requalifizierung und Reallokation notwendig. Ohne diese dürften sich potenzielle Produktivitätszuwächse nur schwer realisieren lassen.
Transformationsfähigkeit als zentraler Wachstumsfaktor
Rückläufiges Arbeitsvolumen kann im Kontext des beschriebenen Tätigkeitswandels gegensätzliche Wirkungen entfalten. Einerseits kann Knappheit als Innovationsanreiz dienen: Wenn die zunehmende Nachfrage nach analytischen und interaktiven nicht-routine Tätigkeiten nicht gedeckt werden kann, steigt der Druck auf Unternehmen, Prozesse zu automatisieren, digitale Technologien breiter einzusetzen oder KI-gestützte Systeme zu integrieren. Solche substitutiven Innovationen beschleunigen die technologische Diffusion und können langfristig produktivitätssteigernd wirken.
Andererseits kann Arbeitskräftemangel eine dämpfende Wirkung entfalten, insbesondere dort, wo Tätigkeiten nur begrenzt automatisierbar sind oder wo personelle Engpässe unmittelbar Investitionen und Wachstumsvorhaben begrenzen. In Bereichen wie Pflege, Bildung oder dem Bau führen Fachkräfteengpässe bereits heute dazu, dass Projekte verschoben, Investitionsentscheidungen vertagt oder Innovationsprozesse gar nicht erst angestoßen werden. Gerade in diesen Sektoren wäre Prozessinnovation dringend erforderlich, doch es fehlt häufig an institutionellen Strukturen und Erfahrungen, um solche Innovationen systematisch umzusetzen.
Welche dieser Dynamiken gesamtwirtschaftlich letztendlich überwiegt, hängt maßgeblich davon ab, ob es gelingt, Humankapital zielgerichtet aufzubauen, Beschäftigte für neue analytische Tätigkeitsprofile zu qualifizieren und Reallokationsprozesse wirksam zu unterstützen.
Der Bedarf an Weiterbildung und Umschulung wächst insbesondere in jenen Berufsfeldern, die durch den Rückgang von Routine-Tätigkeiten besonders betroffen sind. Gelingt es, diese Transformationsprozesse zu gestalten und Beschäftigte in wachstumsstarke Tätigkeitsbereiche zu überführen, kann ein Impuls für technologischen Fortschritt entstehen.
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