Die Industrie 4.0 (I4.0) ist seit über einem Jahrzehnt als Zukunftsvision richtungsweisend für das Verarbeitende Gewerbe in Deutschland. Auch jenseits dieser Hightech-Vision ist die Digitalisierung der Produktion eine zentrale Herausforderung für alle Industriebetriebe.
Auch als vierte industrielle Revolution bezeichnet, beschreibt sie ein neues Produktionsparadigma, welches auf Technologien wie Cyber-physischen Produktionssystemen, dem Internet of Things (IoT) oder der Mensch-Maschine Interaktion basiert. Für Deutschland als führenden Produktionsstandort stellt die I4.0 damit ein zentrales Element für die Zukunft der Wertschöpfung dar – entsprechend groß sind die Hoffnungen aus Wirtschaft und Politik, die damit verbunden werden.
Aufgrund der hohen Bedeutung der I4.0 hat das Fraunhofer ISI bereits im Jahr 2015 einen I4.0-Index entwickelt, der auf mehreren verschiedenen digitalen Produktionstechnologien beruht. Mit Hilfe der repräsentativen Betriebsbefragung Modernisierung der Produktion, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt wird, lässt sich so der digitale Fortschritt in der Industrie empirisch messen und über die Zeit vergleichen.
Für unsere aktuellen Veröffentlichungen haben wir die Erhebungswellen von 2015, 2018 und 2022 analysiert und mithilfe des ISI-Industriepanels, das diese drei Erhebungswellen miteinander verknüpft, Schlussfolgerungen gezogen. Dabei zeigen unsere Ergebnisse ein eher verhaltenes Digital-Wachstum des letzten Jahrzehnts auf.
Seit 2018 rückläufiger I4.0-Fortschritt
Zunächst hatten sich die vormals weniger digitalisierten Betriebe und Branchen überdurchschnittlich verbessert: Die kleinen und mittelständische Unternehmen (KMU) hatten von 2015 bis 2018 große Fortschritte hinsichtlich der Digitalisierung gemacht und die digitale Kluft gegenüber größeren Betrieben erheblich schließen können.
Allerdings zeigt sich, dass dieser Trend nach 2018 nicht beibehalten werden konnte, sondern ein rückläufiger Digitalisierungsfortschritt folgte. Das Wachstum hatte 2018 zunächst bei 12 Prozent im Vergleich zum Ausgangsjahr 2015 gelegen. Zwischen 2018 und 2022 war der digitale Fortschritt jedoch deutlich rückläufig und lag lediglich bei 5 Prozent Wachstum.
Grund hierfür sind unterschiedliche Dynamiken in den beiden Zeiträumen. Denn die anfänglichen Jahre zwischen 2015 und 2018 waren größtenteils von einem Einstieg der breiten Masse an Herstellern in I4.0-Basisanwendungen geprägt. Somit profitierte das Verarbeitende Gewerbe insgesamt vom digitalen Fortschritt.
Die Entwicklung zwischen 2018 und 2022 zeigt deutlich andere Tendenzen: Während sich kleine- und mittelgroße Betriebe (KMU) mit bis zu 250 Beschäftigten nur geringfügig verbessern konnten, waren es insbesondere große Betriebe, die verstärkt auf einen Ausbau ihrer digitalen Produktion setzten. Während zu Beginn der Entwicklung also niedrigschwellige I4.0-Technologien breit diffundierten, konzentrierte sich der I4.0-Fortschritt in den letzten Jahren auf wenige Großbetriebe.
Stagnation und Trendwende durch Corona
Diese Stagnation lässt sich auch auf die COVID-19-Krise mit ihren Lockdowns und einhergehenden Produktionseinschränkungen ab dem Frühjahr 2020 zurückführen. Denn der Fortschritt von Industrie 4.0 in Unternehmen hängt unseren Ergebnissen zufolge maßgeblich von deren wirtschaftlicher Lage ab. Wer 2015 finanziell stark aufgestellt war, hatte bessere Chancen, in den Folgejahren in digitale Technologien zu investieren und sein I4.0-Level auszubauen.
Allerdings zeigten sich aufgrund schwächerer Umsätze während der Lockdowns gerade KMU weniger investitionsfreudig, was wiederum einen geringeren Modernisierungsgrad des Produktionsequipments zur Folge hatte. Großunternehmen konnten aufgrund ihrer besseren Ressourcenausstattung die Folgen der Lockdowns besser überwinden und der Digitalisierung auch während der Krise eine höhere Aufmerksamkeit schenken.
Trend der De-Digitalisierung weit verbreitet
Aber auch jenseits der Krise wird deutlich, dass der Rückgang der Dynamik auch darin begründet ist, dass zahlreiche KMU nicht nur keinen Fortschritt bei ihren I4.0-Technologien realisierten, sondern vielmehr zwischen 2018 und 2022 deutliche Rückschritte in der digitalen Ausstattung zu verzeichnen hatten. Mehr als klassische analoge Technologien erfordern digitale Lösungen auch nach ihrer Implementierung kontinuierliche Anpassungen, gezielte Maßnahmen und Investitionen. Dies konnten gerade KMU nicht immer leisten.
Der Effekt der De-Digitalisierung beschreibt somit einen rückläufigen Digitalisierungsgrad im Produktionssystem eines Herstellers. In der akademischen Literatur kursiert der Begriff des Digital Paradox, wonach sich Investitionen in digitale Technologien für Betriebe nicht immer auszahlen. Möglicherweise setzt dieses Paradoxon seit einigen Jahren in der Industrie ein und verursacht unter weiten Teilen der KMU die beobachtete De-Digitalisierungswelle.
Im Detail zeigen unsere Ergebnisse, dass sich im Zeitraum von 2015 bis 2018 ein knappes Drittel der Produktionsbetriebe hinsichtlich ihres I4.0-Levels verbessern konnten, während 11 Prozent der Betriebe von De-Digitalisierung betroffen waren.
Im Zeitraum von 2018 bis 2022 sah es deutlich anders aus: Nur noch ein Viertel aller Produktionsbetriebe verbesserte ihr I4.0-Level. Im Gegensatz dazu verzeichnete aber sogar jeder fünfte Hersteller einen digitalen Rückschritt. Im Vergleich zum ersten Beobachtungszeitraum (2015-2018) liegt der Effekt der De-Digitalisierung also fast doppelt so hoch.
Digitalisierung bildet die Basis für KI-Anwendungen in der Industrie
Das Problem des mäßigen Digitalisierungsfortschritts wird sich zukünftig jedoch auch in der Verbreitung von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Industrie niederschlagen. KI gilt als Querschnittstechnologie, entsprechend bilden digitale Infrastrukturen, Sensorik, integrierte digitale Systeme oder Cloudanbindungen die Basis für den Einsatz von KI in der Produktion und bei industriellen Anwendungen.
Laut unseren Analysen setzten im Jahr 2022 bereits 16 Prozent aller Industriebetriebe KI-Anwendungen in ihrer Produktion ein. Insgesamt erwarten wir, dass bis 2025 rund ein Viertel aller Hersteller in Deutschland auf KI-Lösungen im eigenen Produktionssystem zurückgreift. Bei Großunternehmen ist sogar davon auszugehen, dass die Quote der KI-Nutzer bei über 40 Prozent liegt.
Noch handelt es sich bei diesen KI-Anwendungen zumeist um isolierte Lösungen. Eine schnelle und breite Diffusion von KI in der Industrie ist jedoch nur gewährleistet, wenn sich auch der digitale Fortschritt insgesamt beschleunigt – zumal unsere Ergebnisse auf einen starken Zusammenhang zwischen I4.0-Fortschritt und KI-Anwendungen schließen lassen. Falls dies nicht gelingt, werden komplexere KI-Lösungen schnell an die Grenzen ihrer Einsatzmöglichkeiten stoßen, was sich mittel- bis langfristig in einem Wettbewerbsnachteil niederschlagen könnte.
Evolutorischer Fortschritt statt revolutionärer Durchbrüche
So bleibt festzuhalten, dass die Entwicklung der I4.0 im Verarbeitenden Gewerbe einen eher evolutionären Charakter besitzt. Dabei ist die Integration von I4.0-Technologien in den allgemeinen Modernisierungsprozess der Produktion weiterhin wesentlich von Produktionsstrukturen und der wirtschaftlichen Situation der Betriebe geprägt.
Aber auch eine Reduzierung des Digitalisierungsgrads beim eigenen Produktionsequipment ist gerade unter KMU weit verbreitet. Unternehmen sollten sich darauf einstellen, dass die Einführung von I4.0-Technologien aufgrund des evolutorischen Charakters kontinuierliche Anpassungen, Optimierungen und Reinvestitionen erfordert. Dies gilt nicht nur für digitale Standardlösungen, sondern auch für moderne KI-Technologien.
Schleichender Verlust der Wettbewerbsfähigkeit droht
Fehlender digitaler Fortschritt ist kein kurzfristiges Problem, sondern eine langfristige Bedrohung für die Wettbewerbsfähigkeit der industriellen Wirtschaft, die sich schleichend einstellen wird. Ohne eine konsequente digitale Transformation werden Unternehmen nicht nur an Effizienz, sondern auch an Innovationskraft und Marktrelevanz verlieren.
Günstige Anbieter aus Asien, neue Zölle und die Dekarbonisierung der Produktion werden den globalen Konkurrenzdruck noch weiter erhöhen. Eine Lösung für eine auch zukünftig hohe Wettbewerbsfähigkeit der Industrie sowie für den Erhalt der Wertschöpfung in Deutschland bietet aktuell nur die vierte industrielle Revolution. Um also den digitalen Fortschritt in Deutschland zu beschleunigen und eine flächendeckende Verbreitung sicherzustellen, sind neue Lösungen und kontinuierliche Investitionen unerlässlich.
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