Nicht erst seit Corona wissen wir, dass unser Pflegesystem nicht zukunftsfest ist. Die Krise führt uns nochmals deutlich vor Augen, wie unabdingbar dieses System für das Funktionieren von (alternden) Gesellschaften ist; ein Sicherungszweig, der aber gemeinhin als ökonomisch unproduktiv gilt. Dabei können Innovationen in sozialen Systemen den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben, eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherstellen und dafür die verfügbaren Ressourcen nachhaltiger einsetzen. Dies zeigt das beeindruckende Beispiel des innovativen Pflegepiloten aus den Niederlanden.
Was sind soziale Innovationen?
Bei Innovationsfähigkeit denkt man zunächst an Potenziale für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und an positive Impulse für das Wirtschaftswachstum. Soziale Innovationen spielen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bewusstsein bislang eine untergeordnete Rolle. Dabei können soziale Innovationen Gesellschaften resilienter machen und langfristig zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. Gesellschaften sind umso resilienter, je eher ihnen eine ausgeglichene Balance zwischen Kontinuität und Wandel gelingt, und sie es schaffen gegebene Herausforderungen aufzugreifen und die (neu) entstandenen Bedürfnisse einer Gesellschaft zu erfüllen. Genau hier setzen soziale Innovationen an: Sie greifen gesellschaftliche Trends und Bedürfnisse explizit auf und aktivieren bzw. nutzen zur Erreichung sozialer Ziele Ressourcen, auf die z.B. traditionelle (Sicherungs-)Systeme bisher nicht zurückgreifen.
Die wachsenden Herausforderungen einer stark alternden Gesellschaft liegen besonders im Bereich Pflege auf der Hand: Die Anzahl pflegebedürftiger Menschen wächst kontinuierlich und setzt die professionelle Langzeitpflege massiv unter Druck. In Zukunft rechnen Expertinnen und Experten mit kürzeren, aber intensiveren Pflegephasen. Chronische und multimorbide Krankheitsbilder sowie Demenzerkrankungen werden weiter zunehmen und die Nachfrage nach Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erhöhen. Gleichzeitig geht das familiäre Pflegepotenzial zurück und die Bedürfnisse alternder Menschen wandeln sich. Zukünftig wird es nicht mehr allein darum gehen, das Risiko Pflegebedürftigkeit abzudecken, sondern den Wünschen nach vorpflegerischen Leistungen nachzukommen, bestehende Angebote professioneller Dienste besser zu koordinieren und zu vernetzen, und schließlich zur sozialen Integration Pflegebedürftiger beizutragen, was bislang nur unzureichend gelungen ist.
Soziale Innovationen in der Pflege: Das Modell Buurtzorg
Was eine soziale Innovation in kurzer Zeit bewirken kann, lässt sich in den Niederlanden an dem innovativen Pflegemodell Buurtzorg nachverfolgen. Der Name Buurtzorg bedeutet übersetzt: „Nachbarschaftshilfe“ Seit 2006 hat es sich vom Pilotprojekt zum größten Anbieter ambulanter Pflege entwickelt und das niederländische Pflegesystem revolutioniert. Durch Buurtzoog ist die Überwindung der für die Pflege typischen tayloristischen Aufgabenteilung und die stark bürokratisierten Abläufe gelungen. Die Pflegekräfte haben wieder Spaß an ihrer Arbeit und auch die KlientInnen sind mit der Versorgung in höchstem Maße zufrieden. Zentrale Merkmale des Modells sind selbstorganisierte professionelle Pflegeteams, eine ganzheitlich ausgerichtete Pflege (siehe Graphik oben) und der intelligente Einsatz von IT-Anwendungen. Aktuell sind selbst traditionelle ambulante Pflegedienste in den Niederlanden darauf angewiesen Bestandteile des Modells zu übernehmen, weil das professionelle Pflegefachpersonal nicht mehr bereit ist innerhalb der alten Strukturen zu arbeiten.
Der Unterschied: Ein gänzlich innovativer Ansatz für die ambulante Pflege
Das bestehende Pflegesystem sieht vor, dass Pflegedienste für ihre KlientInnen Leistungen aus einem festgelegten und mit Preisen versehenen Verrichtungskatalog bereitstellen, der sich an den Aktivitäten und Funktionen orientiert, die die KlientInnen aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit selbst nicht mehr ausführen können. Allerdings lassen sich solche Dienstleistungen nach dem „Baukastenprinzip“ häufig nur schwer in Einklang mit den Wünschen nach individuell zugeschnittenen Hilfen bringen. Buurtzorg hingegen verfolgt eine ganzheitliche Sichtweise auf die pflegebedürftigen Personen und organisiert den Pflegeprozess rund um die Förderung und den Erhalt ihrer Selbständigkeit. Anstatt die Leistungen an den Defiziten der KlientInnen auszurichten, liegt der Fokus auf den verbleibenden Ressourcen und wie diese wieder gestärkt werden können. Dafür wird das ganze soziale Umfeld der KlientInnen einbezogen und gemeinsam ein individueller Pflegeplan entwickelt. Es handelt sich damit um einen ressourcenorientierten statt einen defizitorientierten Ansatz. Die Pflegekräfte rechnen dabei nicht nach den verrichteten Leistungen ab, sondern nach einem pauschalen Stundensatz. Sie entscheiden stattdessen selbst, wie viel Zeit sie für eine auf Selbständigkeit orientierte Pflege aufwenden. Pflege wird dadurch weniger fragmentiert. Hinzu kommt, dass maximal 3-4 Pflegekräfte für eine zu pflegende Person zuständig sind, um eine möglichst ganzheitliche Bezugspflege, wie sie auch in pflegewissenschaftlichen Lehrplänen unterrichtet wird, zu gewährleisten. So entsteht eine mehrfacher Zuwachs an Attraktivität des Pflegeberufs.
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Charakteristisch für das Modell sind darüber hinaus autonom organisierte wohnortnahe Pflegeteams, bestehend aus bis zu zwölf professionellen Pflegefachkräften, die 50 bis 60 pflegebedürftige Personen im Quartier versorgen. Von der Pflegebedarfsplanung über die Tourenplanung, Weiterbildungen, die Einstellung neuer KollegInnen bis hin zur Verwaltung der Finanzen organisieren die Pflegeteams alles selbst. Dadurch obliegt dem jeweiligen Team die Verantwortung für den gesamten Pflegeprozess und die vorhandenen Kompetenzen im Team werden besser genutzt. Die Teams sind darüber hinaus dafür zuständig, die informellen Netzwerke der KlientInnen zu aktivieren. Das bedeutet, dass nachbarschaftliche oder familiäre Kontakte und Hilfen aktiv gesucht und bei pflegerischen Tätigkeiten eingebunden werden. Dabei werden die informell Pflegenden aber nicht allein gelassen, sondern in ihrer Tätigkeit zunächst professionell angeleitet. Zudem haben sie jederzeit die Möglichkeit, Hilfestellungen in Anspruch zu nehmen und bei Bedarf von den Tätigkeiten wieder entbunden zu werden. Dieses Kernelement stand Pate bei der Namensgebung Buurtzorg.
Ein weiteres Novum ist der konsequente Einbezug von IT-Anwendungen. Die Teams kommunizieren über das Buurtzorg Web und Tablets miteinander, tauschen ihre Erfahrungen aus und erhalten Unterstützung von Teammitgliedern bzw. anderen Teams. Auch kann das jeweilige Budget darüber jederzeit eingesehen und gemanagt werden. Die Teams können so auch besser den Überblick über ihre Produktivität behalten. Eine Besonderheit ist darüber hinaus das elektronische Dokumentations- und Informationsmanagementsystem OMAHA. Neben einer elektronischen Pflegedokumentation ermöglicht es, eine individuelle Pflegeplanung zu erstellen und diese auszuwerten, sodass individuelle Pflegeoutcomes von KlientInnen gemessen werden können. Buurtzorg zeigt allerdings auch, dass es nicht allein reicht eine neue IT-Anwendung zu implementieren, sondern dass ein Mix aus innovativer Arbeitsorganisation und technologischer Assistenztechnologie zum Erfolg führt.
Höhere Qualität, weniger Kosten?
Buurtzorgs dezentrale Mikroorganisation der ambulanten Pflege im Quartier erlaubt eine individuell zugeschnittene Pflege, die sich an den Bedarfen der einzelnen KlientInnen unter Einbezug lokaler Ressourcen orientiert. Sie ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Verbesserung der Pflegequalität in den Niederlanden und wird immer wieder durch die Zufriedenheit der KlientInnen und der Pflegekräfte bestätigt. Zudem hat die Selbstorganisation der Teams den Vorteil, dass das mittlere Management wegfällt und die Verwaltungskosten dadurch im Vergleich zu traditionellen Pflegediensten erheblich reduziert werden können. Zusätzlich wurde bereits in mehreren Studien nachgewiesen, dass durch eine auf die Selbständigkeit ausgerichtete Pflege die Anzahl der Betreuungsstunden um etwa 40 Prozent reduziert werden konnte. Notfälle und ungeplante Krankenhauseinweisungen konnten ebenso messbar gesenkt werden. Würde man die Umsetzung des Buurtzorg-Modells in Deutschland vornehmen, so ergäbe sich laut einfachen Schätzungen ein Kostenvorteil von etwa 20 Prozent. Dies entspricht etwa Einsparungen von 900 Millionen Euro für die Soziale Pflegeversicherung pro Jahr und je 1.100 Euro je Leistungsempfänger.
Obwohl sehr häufig auf den Kostenvorteil des Buurtzorg-Modells in den Niederlanden verwiesen wird, liegt der Erfolg doch vielmehr darin, dass es gelungen ist, den unflexiblen und hoch regulierten Pflegesektor aufzubrechen und eine Alternative zu schaffen, die den Bedürfnissen Pflegebedürftiger nach individueller Pflege und sozialer Integration entspricht. Auch ein nachhaltigerer Umgang mit professionellen Pflegefachpersonen ist gelungen.
Ist Buurtzorg in Deutschland möglich?
Buurtzog stößt in Deutschland bislang zunächst noch auf eine Vielzahl von Vorbehalten. Das niederländische Pflegesystem hätte im Vergleich zu Deutschland mehr akademisch ausgebildetes Personal, stelle insgesamt mehr Budget für das Pflegesystem zur Verfügung und blicke auf eine lange Tradition eigenständigen Arbeitens zurück. Gleichwohl ist Buurtzorg zumindest in Fachkreisen inzwischen auch in Deutschland angekommen. Mittlerweile arbeiten hierzulande sieben Teams nach dem niederländischen Vorbild, sechs in NRW und eins in Sachsen.
Bislang ist Buurtzorg in Deutschland aber ausschließlich als Modellprojekt angelegt. Jedes Team braucht deshalb eine Sondergenehmigung bei der Krankenkasse für die Abrechnungsform nach Stundensätzen, damit die flexible und selbständige Pflege auch in Deutschland erbracht werden kann. Eine kostendeckende Umstellung erreichen die Teams laut Geschäftsführer Johannes Technau bereits schon etwa einem Jahr. Langfristig wird jedoch das Ziel angestrebt einen Überschuss von ein bis zwei Prozent zu erzielen, der dann wieder in Innovation fließen soll. Der GKV-Spitzenverband sowie die FH Münster und die Hochschule Osnabrück begleiten das Modellprojekt. Ein weiteres Ziel ist mehr KlientInnen bei gleicher oder höherer Qualität zu versorgen.
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Insgesamt scheint es derzeit eine Aufbruchsstimmung in Deutschland zu geben: So haben sich neben Buurtzorg Deutschland viele weitere soziale Dienste wie Vierbeimir-Kietzpflege in Berlin oder Ich und Du Pflege GmbH in Freiburg auf den Weg gemacht und beschreiten im Pflegesektor innovative Pfade.
Sie alle eint, die vorhandenen rigiden Strukturen im Pflegesystem nicht als gegeben anzusehen und Möglichkeiten zu suchen innovative Pflegeformen/-praktiken durchzusetzen. Angesichts der Aufbruchstimmung ist es dennoch wichtig, die Vorteile der innovativen Praktik bzw. Arbeitsweise zu belegen. So ist es Buurtzorg in den Niederlanden erst durch belastbare Befunde gelungen Kosten- und Entscheidungsträger für das Modell zu interessieren. Es konnte zeigen, dass es im Vergleich zu traditionellen Anbietern kostengünstiger arbeitet, die Pflegequalität höher ist und Beschäftigte zufriedener sind.
Daneben scheitern hervorragende Ideen wie Buurtzoog häufig nicht an Mängeln oder Schwächen, sondern schlicht weil keine adäquaten Mechanismen gefunden werden, um auf sie aufmerksam zu machen und größere Verbreitung für sie zu finden. Das Beispiel aus den Niederlanden sowie die beschriebenen Projekte hierzulande zeigen, welche Potenziale soziale Innovationen abseits etablierter Praktiken sozialer Sicherung als Antwort auf gesellschaftliche Trends und Herausforderungen bereithalten. Das Projekt Demografieresilienz und Teilhabe der Bertelsmann Stiftung analysiert derzeit systematisch die Potenziale sozialer Innovationen bzw. innovativer Pflegesettings in der ambulanten Langzeitpflege in Deutschland. Eine zentrale Frage dabei ist, welche Ressourcen sie aktivieren bzw. nutzen und ob sie die Bedarfe von Pflegebedürftigen, professionell Pflegenden und pflegenden Angehörigen besser befriedigen als traditionelle Pflegesettings. Aktuell ergibt sich durch die Corona-Krise ein Opportunitätsfenster, weil das System der Altenpflege die Öffentlichkeit in dieser Dimension selten so beschäftigt hat. Die neu entfachten Diskussionen sollten dafür genutzt werden, derartigen sozialen Innovationen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Ein sehr guter Ansatz!
Was ich vermisse ist eine regelmäßige Supervision (3-4mal jährlich); ich denke dies hilft die Ereignisse aufzuarbeiten und in positive Energie umzusetzen. Ich selber besuchte vor Corona im Rahmen meiner Hospizbegleitertätigkeit eine Balintgruppe. War und ist für mich richtig wertvoll.