Es ist unbestreitbar, dass Wissenschaft und Technologie Zeiten großer Umbrüche durchlaufen. In einem Kreislauf ständiger Begegnungen und Zusammenstöße mit den wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken und Strukturen der gegenwärtigen Gesellschaft verliert die Wissenschaft von heute zunehmend an Einheit und hybridisiert sich. Einerseits scheint der Vormarsch der technologischen und bioinspirierten Disziplinen wie ein Erdbeben auf die klassischen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen zu wirken. Ebenso auf die alte, aber immer noch stark vertretene Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Technik. Disziplinen wie Biorobotik, Biomimetik, synthetische Biologie und verkörperte künstliche Intelligenz orientieren sich an Formen der Natur (organische Formen und Formen der Intelligenz der Natur), um Algorithmen und Roboter zu entwickeln, die die Grenzen zwischen Natur, Technologie und Gesellschaft auflösen. Auf diese Weise entstehen biohybride Entitäten, die die traditionellen Kategorien von Organismus und Design in Frage stellen und damit neue Fragen nach den produktiven Fähigkeiten und Grenzen des Menschen aufwerfen beziehungsweise erzwingen.
Das Phänomen Quantifizierung führt zum Zusammenbruch
Auch die sozialen und produktiven Strukturen der techno-wissenschaftlichen Produktion sind in mehrfacher Hinsicht unter Druck geraten. Das Phänomen der Quantifizierung wissenschaftlicher Ergebnisse führt zu einem Zusammenbruch des Systems der Produktion und Kontrolle wissenschaftlicher Ergebnisse selbst. Vier Beispiele von vielen.
Eindruck von geringerem Innovationsdrang: Erstens haben mehrere Artikel in der renommierten Zeitschrift Nature durch die Analyse von Big Data und Veröffentlichungszahlen den Eindruck erweckt, der Innovationsdrang in der Wissenschaft sei heute geringer[1].
Wettlauf um Veröffentlichungen: Zweitens wird bei allen Auswahlverfahren und Ausschreibungen für Forschungsprojekte die Exzellenz der KandidatInnen bewertet. Dies wird quantitativ an der Anzahl der Veröffentlichungen in Q1-Fachzeitschriften und den Zitationen gemessen (z.B. über den H-Index). Dies hat dazu geführt, dass (junge und etablierte) WissenschaftlerInnen in einen Wettlauf um Veröffentlichungen verwickelt werden, wobei sie manchmal darauf verzichten, allgemeinere Fragen zu den Strukturen, Praktiken und Daten der betreffenden Wissenschaft zu stellen. Diese Fragen brauchen bekanntlich Zeit, um gestellt und beantwortet zu werden. Umgekehrt hat der Druck, zu veröffentlichen, die Frage nach der Dynamik und der Geltung der Wissensproduktion selbst überflüssig gemacht.
Mangel an Gutachtern: Drittens hat der ständige Druck, Artikel in Fachzeitschriften mit Peer-Review-Verfahren zu veröffentlichen, dazu geführt, dass immer mehr Artikel bei Fachzeitschriften eingereicht werden. Diese sehen sich daher mit der Situation konfrontiert, immer mehr ExpertInnen für die Begutachtung der Arbeiten finden zu müssen – Arbeiten, die, wie im vorhergehenden Punkt beschrieben, oft hochspezialisiert sind und die nur sehr wenige Person auf der Welt ernsthaft beurteilen können. Obwohl die Praxis des Peer Review seit dem 18. Jahrhundert einer der unerschütterlichen Wegbereiter für die Professionalisierung der Wissenschaft war, fällt es den HerausgeberInnen heute schwer, ExpertInnen für die Begutachtung von Arbeiten zu gewinnen.
Zum einen sind die WissenschaftlerInnen selbst immer weniger bereit, die ihnen zur Verfügung stehende Zeit für die Begutachtung der Arbeiten anderer aufzuwenden – sondern konzentrieren sich notgedrungen lieber darauf, einen Antrag zu schreiben, einen neuen Artikel zu verfassen oder ihre Forschung bekannt zu machen, um Fördergelder einzuwerben. Zum anderen sind „viele Wissenschaftler zunehmend frustriert über Zeitschriften, die von der unbezahlten Arbeit der Gutachter profitieren und gleichzeitig hohe Gebühren für die Veröffentlichung in ihnen oder das Lesen ihrer Inhalte verlangen“, wie Amber Dance in Nature (Nature 614, 581-583 / 2023) berichtet. Die Folge ist ein drastischer Rückgang der Kompetenz (und Qualität) derer, die einen wissenschaftlichen Artikel begutachten, und damit eine Nivellierung der Tiefe des Artikels – ganz zu schweigen von all der heftigen Kritik an den Peer-Review-Praktiken selbst.
Prekäre Bedingungen: Viertens, und die Beispiele ließen sich fortsetzen, nimmt die prekäre und unterbezahlte Situation in der Wissenschaft aufgrund der Post-Pandemie-Situation stetig zu. Bewegungen wie #ichbinhanna machen zunehmend auf die prekären und zutiefst ausbeuterischen Bedingungen aufmerksam, in denen sich WissenschaftlerInnen befinden. Der so genannte Mittelbau spielt eine zentrale Rolle in der universitären Lehre und Forschung und ist oft auf sich allein gestellt.
Die Antworten auf diesen tiefgreifenden Umbruch sind vielfältig. Eine davon hat bereits der Soziologe Max Weber in seinem berühmten Werk Wissenschaft als Beruf analysiert. Nach einer Aufzählung aller Probleme, mit denen die Wissenschaft zu kämpfen hatte (Probleme, die mutatis mutandis dieselben sind wie die der heutigen Wissenschaft), stellt er einem Studenten, der eine akademische Laufbahn anstrebt, folgende Frage: „Glauben Sie, dass Sie es aushalten, dass Jahr um Jahr Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit über Sie hinaussteigt, ohne innerlich zu verbittern und zu verderben? Dann bekommt man selbstverständlich jedes Mal die Antwort: Natürlich, ich lebe nur meinem »Beruf«; – aber ich wenigstens habe es nur von sehr wenigen erlebt, dass sie das ohne inneren Schaden für sich aushielten“ (Weber, Schriften 1894–1922, Stuttgart 2002, 481).
Forderung nach einer technowissenschaftlichen Aufklärung
In Anlehnung an Weber möchte ich darauf hinweisen, dass Berufung mit einem kritischen Ansatz einhergehen muss, um die sozialen Praktiken und (techno-)kognitiven Ansprüche der heutigen Wissenschaft zu verstehen und neu zu erforschen. Die Wissenschaft und Technologie des 21. Jahrhunderts brauchen dringend eine tiefgreifende aufklärerische Debatte über die Vorzüge, die Grenzen und die Bedeutung der Technowissenschaft in der heutigen Welt und darüber, wie das, was Weber die äußeren Bedingungen der wissenschaftlichen Produktion nennt, neu formuliert werden kann. Der Philosoph Immanuel Kant definierte Aufklärung als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Dieser Definition, die heute jede/r AbiturientIn kennt, fügte Kant zwei zentrale Worte hinzu: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft 1784, 481).
Um mit den tiefgreifenden inneren und disziplinären Umbrüchen der heutigen Wissenschaft umgehen zu können, bedarf es einer Übung in technowissenschaftlicher Aufklärung: Es bedarf des Mutes, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Ziel wäre es, einen kritischen, reflexiven und integrativen Dialog über die Rolle von Wissenschaft und Technik bei der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft zu führen und einen Kurs in Richtung einer ethischeren, nachhaltigeren und gerechteren Gesellschaft und einer Ethik der sozialen Praxis der Wissensproduktion einzuschlagen.
Eine technowissenschaftliche Aufklärung kann auf mehreren Ebenen erreicht werden:
Dynamiken verstehen: Erstens muss man den Mut haben, über die disziplinären Grenzen und die Macht der Daten hinauszugehen, um die allgemeineren Dynamiken zu verstehen, die den Erkenntnisprozess ermöglichen. Das bedeutet, den Mut zu haben, Wissen und Expertise zwischen verschiedenen Disziplinen und soziokulturellen Kontexten zirkulieren zu lassen, auch wenn diese Zirkulation nicht unmittelbar quantifizierbar ist.
Die Geschichte der Wissenschaft und Technologie lehrt uns, dass Innovation entsteht, wenn Wissen hybridisiert wird. Diese Hybridisierung findet auch durch Wissenschaft und Technologie statt, d.h. zwischen dem Wissenschaftler und den Werkzeugen, die er oder sie benutzen kann, um sein oder ihr Wissen zu begründen.
In einer Gesellschaft, in der ChatGTP und andere KI-Tools die rein reproduktive Arbeit überflüssig machen, kann sich die Rolle des Wissenschaftlers grundlegend ändern. Sowohl in der universitären Ausbildung als auch in der täglichen Forschung muss die WissenschaftlerIn den Mut haben, ihre eigene Intelligenz zu nutzen, um die umfassenderen Fragen zu entwickeln und zu stellen, die die kognitiven und ingenieurwissenschaftlichen Praktiken kennzeichnen.
Dies bedeutet auch, das Verhältnis zwischen Natur, Technologie und Gesellschaft neu zu (über-)denken: Eine tiefgreifende Aufklärungsdebatte könnte beinhalten, die traditionellen Grenzen zwischen Natur, Technologie und Gesellschaft in Frage zu stellen und neue Wege zum Verständnis ihrer Beziehungen zu erkunden. Beispielsweise könnte untersucht werden, wie Biomimetik, Biorobotik, synthetische Biologie und Biodesign genutzt werden können, um nachhaltigere und widerstandsfähigere Technologien zu schaffen. Wie technologische Systeme so gestaltet werden können, dass sie natürliche Ökosysteme nachahmen. Die Debatten könnten sich auch darauf konzentrieren, wie eine harmonischere und stärker integrierte Beziehung zwischen Mensch und Natur gefördert werden kann.
Motto (sofern es die prekären Umstände zulassen): Kritisiert die Quellen des Wissens und die traditionellen Methoden seiner Verbreitung. Wagt es, euch zwischen Disziplinen und Methoden zu begeben, auch wenn dies nicht zu Veröffentlichungen führt, um die Perspektive auf die Realität zu erweitern.
Zusammenarbeit und Wissensaustausch: Zweitens bedeutet technowissenschaftliche Aufklärung eine Betonung der interdisziplinären Zusammenarbeit und des Wissensaustauschs. In einer technowissenschaftlichen Aufklärung würden WissenschaftlerInnen erkennen, dass die komplexesten Probleme der Gesellschaft nicht von einer einzigen Disziplin oder einem einzigen Sektor gelöst werden können. Sie würden daher ermutigt, interdisziplinär zu arbeiten, ihr Wissen zu teilen und mit Fachleuten aus anderen Bereichen zusammenzuarbeiten.
Technisch-wissenschaftliche Bildung könnte einen Wandel hin zu einem rationaleren und evidenzbasierten Ansatz in der Entscheidungsfindung und zu einer stärkeren Betonung wissenschaftlicher Kompetenz und kritischen Denkens in der breiten Öffentlichkeit bewirken. Dies wiederum könnte zu einer besser informierten und engagierteren Bürgerschaft führen, die besser in der Lage ist, komplexe Probleme zu bewältigen, was letztlich zu einer gerechteren und ausgewogeneren Gesellschaft führen könnte. Darüber hinaus könnten Fortschritte in Technologie und Wissenschaft dazu beitragen, viele der drängenden Herausforderungen der Menschheit, wie Klimawandel, zu bewältigen. Insgesamt würde eine technologisch-wissenschaftliche Aufklärung das Streben nach Wissen in den Vordergrund stellen, mit dem Ziel, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.
Motto: Wagt den Schritt über die akademische Welt hinaus und versucht, Wissenschaft und Gesellschaft zu vereinen.
Arbeitsbedingungen ablehnen: Eine technowissenschaftliche Aufklärung wagt es, den Zustand der akademischen Arbeit abzulehnen, in dem das Prekariat wächst und die Vernunft selbst nicht im Mittelpunkt steht: Sie wagt es, die niedrigsten akademischen Arbeitsbedingungen nicht zu akzeptieren und sich der Mittelmäßigkeit zu widersetzen, um endlich aus der soziologischen Beschreibung der wissenschaftlichen Produktion auszubrechen, die Weber vor mehr als 100 Jahren skizziert hat.
Kurz gesagt: In einer Welt, in der sich das Digitale und das Reale überschneiden, muss der Hashtag #ichbinhanna aus dem Digitalen herauskommen und dem Mittelbau Mut geben, echte strukturelle Veränderungen herbeizuführen. In einer Gesellschaft, in der die technische Automatisierung dazu beiträgt, die Arbeitswelt neu zu denken, muss die intellektuelle und kritische Arbeit in den Mittelpunkt gestellt und wirtschaftlich entlohnt werden.
Motto: Mut, die Stimme zu erheben.
[1] Siehe https://www.tagesschau.de/wissen/forschung/studie-innovationen-101.html
Kommentar verfassen