Die Zahl der Pflegebedürftigen ist seit der Jahrtausendwende stetig gestiegen – im Dezember 2019 waren es 4,13 Millionen Menschen. Gleichzeitig sinkt das Familienpflegepotenzial, einerseits demografisch bedingt, andererseits aufgrund sich wandelnder Familienverhältnisse. Zugleich fehlen bereits heute dringend benötigte Pflegekräfte, und das Pflegepersonal ist chronisch überlastet: Der BARMER-Pflegereport 2020 konstatiert einen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen höheren Krankenstand und mehr Frühverrentungen in der Pflege. Immer mehr Pflegekräfte denken daher an einen „Pflexit“, also daran, ihrem Beruf den Rücken zu kehren.
Im Kampf gegen den Pflegenotstand ist die Verbesserung der Arbeitssituation professionell Pflegender die wohl wichtigste Maßnahme. Laut aktuellen Berechnungen gäbe es direkt 26.000 Pflegekräfte mehr, wenn die Arbeitsbedingungen und somit auch die Gesundheit der Pfleger:innen besser wären. Ein klarer Fall für die Notwendigkeit von Innovation!
Das Projekt Demografieresilienz und Teilhabe der Bertelsmann Stiftung legt aktuell einen Schwerpunkt auf die Verbindung von Innovation und Pflege mit dem Ziel, attraktivere Arbeitsbedingungen zu befördern und eine qualitativ hochwertige Pflege auch für die Zukunft zu sichern. Vor diesem Hintergrund ist in Zusammenarbeit mit dem IGES-Institut die aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung „Potenziale sozialer Innovationen in der ambulanten Langzeitpflege“ entstanden. Hier liegt das besondere Augenmerk auf sozialen Innovationen. Im Mittelpunkt stehen nicht moderne Technologien, sondern vielmehr neuartige soziale Praktiken. Anhand von Praxisbeispielen analysiert die Studie, wie mit sozialinnovativen Ansätzen Probleme in der Pflegepraxis besser bewältigt und die Bedürfnisse von Pflegenden und Pflegebedürftigen besser befriedigt werden können.
Soziale Innovationen in der ambulanten Pflegepraxis
Drei Viertel der Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt – entweder allein von Angehörigen oder im Zusammenspiel mit einem ambulanten Pflegedienst. Die allermeisten Menschen wünschen sich, bei Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich in der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben. Somit kommt der ambulanten Pflege auch in Zukunft ein hoher Stellenwert zu. Vor diesem Hintergrund steht die ambulante Langzeitpflege in unserer Studie im Mittelpunkt. Drei Handlungsfelder haben sich dabei in unserer Recherche als besonders relevant erwiesen: Soziale Innovationen finden sich besonders häufig in der Arbeitsorganisation, im Pflegeprozess und bei der Vernetzung des lokalen Umfelds der Pflege.
Pflegekräfte haben oft eine hohe Motivation für ihren Beruf, erleben im Arbeitsalltag jedoch vielfältige Frustrationen aufgrund von Zeitdruck, Dokumentationsdschungel oder unflexiblen Vorgaben. So stellt sich das unbefriedigende Gefühl ein, den pflegebedürftigen Menschen nicht wirklich gerecht werden zu können. Soziale Innovationen im Bereich der Arbeitsorganisation zielen darauf, die Motivation und die Gesundheit des Pflegepersonals zu stärken. Dafür setzen sie auf die Entlastung von administrativen Aufgaben und mehr Eigenständigkeit sowie größere Handlungsspielräume. Es geht darum, die Arbeitsabläufe an die Bedürfnisse sowohl der Pflegebedürftigen als auch der Pflegenden besser anzupassen. Wie dies in der Praxis konkret funktionieren kann, zeigt das aus den Niederlanden stammende Pflegemodell „Buurtzorg“, bei dem die Pfleger:innen in kleinen Pflegeteams selbstorganisiert zusammenarbeiten.
Ganzheitlicher Fokus auf die Person und ihre Ressourcen
Ein wichtiger Aspekt bei Buurtzorg und anderen sozialinnovativen Pflegeansätzen ist die Umsetzung des Grundsatzes der Person-Zentrierung mittels eines individuellen Case-Managements und einer ressourcenorientierten Herangehensweise im Pflegeprozess. Das bedeutet, bei der Pflege die (noch verbliebenen) Fähigkeiten der Pflegeempfangenden in den Fokus zu stellen und zu stärken, anstatt den Pflegeprozess von Defiziten her zu denken. Eine praktische Ableitung aus dem Leitbild der Person-Zentrierung ist außerdem das Prinzip der Bezugspflege. Dabei haben pflegebedürftige Personen bestimmte Pflegekräfte als feste Bezugspersonen, die für sie zuständig sind. Diese Praxis ermöglicht zwischenmenschliche Beziehungen und eine passgenauere Pflege. Das hilft nicht nur den Pflegeempfangenden, sondern trägt auch zur Zufriedenheit der Pflegekräfte bei.
Mit Blick auf den Grundsatz der Ressourcenorientierung hat ein Modell-Projekt im Saarland gezeigt, dass darauf basierende Aktivierungsmaßnahmen die Lebensqualität der Pflegeempfangenden stark verbessern können. Im Projekt „Daheim aktiv“ bildeten Pflegekräfte in Zusammenarbeit mit Ergotherapeut:innen „Aktivierungsteams“, die bei den Pflegeempfangenden eine erhebliche Reduktion von Schmerzen erzielen und vielfach Fähigkeiten für einen selbstständigeren Alltag wiederherstellen konnten. Dabei können schon kleine Fortschritte für die Pflegebedürftigen eine große Errungenschaft bedeuten, wie das Zitat einer Probandin im Abschlussbericht zu dem Projekt zeigt: „Sie glauben gar nicht, wie es ist, wenn die Schmerzen mal nachlassen, das ist ein anderes Leben. Als ich das erste Mal wieder Pellkartoffeln selber machen konnte, hätte ich heulen können vor Freude.“
Verzahnung von Pflege und sozialer Teilhabe im Quartier
Zentral für sozialinnovative Pflegemodelle ist die Verankerung der Pflege im Wohnumfeld der Pflegeempfangenden. Die Nachbarschaft war für Buurtzorg sogar namensgebend („buurt“ = Nachbarschaft, „zorg“ = Pflege), und auch andere „Leuchttürme“ im Bereich sozialinnovativer Pflege setzen auf das Prinzip der Vernetzung von Pflege und Quartier, wie das Bielefelder Modell. Nachbarn bzw. Ehrenamtliche spielen in diesen Modellen eine wichtige Rolle: Sie unterstützen das Gefüge mit Tätigkeiten, die eher in den Bereich der sozialen Fürsorge fallen und für die in der Regel keine finanziellen Mittel aus der Pflegeversicherung abrufbar sind. Sie entlasten damit professionell Pflegende, die sich so mehr auf ihre pflegerischen Kernaufgaben konzentrieren können.
In München konnte der Verein deinNachbar durch die effektive Koordination des Zusammenspiels von professionellen Pflegekräften und ehrenamtlichen „Alltagsbegleiter:innen“ mit Hilfe einer eigens entwickelten „Helfer-App“ ein großes Versorgungsnetzwerk aufbauen. Neben der Entlastung, die sich durch eine sinnvolle Arbeitsteilung mit Ehrenamtlichen für die Pflegekräfte ergibt, sind auch die kurzen Wege im Quartier potenziell ein Gewinn für professionell Pflegende. Denn der Stressfaktor, sich den Weg zur nächsten Klientin mit dem Auto durch zähflüssigen Stadtverkehr bahnen zu müssen, entfällt.
Green Care: Pflege auf dem Bauernhof
Während sich der Quartiersansatz in der Pflege vornehmlich in (Groß-)Städten entwickelt hat, berichten die Medien in jüngerer Zeit häufiger von ähnlich gelagerten neuen Ansätzen auch im ländlichen Raum. Diese firmieren unter der Bezeichnung „Green Care“ und sind zum Beispiel in den Niederlanden oder Frankreich bereits stärker verbreitet.
Die soziale Innovation lässt sich mit dem Schlagwort „Pflegebauernhof“ auf den Punkt bringen: Hier leben alte und pflegebedürftige Menschen angebunden an eine Hofgemeinschaft, die in der Regel von einer Familie betrieben wird. Da sich die Landwirtschaft allein für die Familien häufig nicht mehr lohnt, kombinieren sie Nebenerwerbslandwirtschaft mit Wohn- und Pflegeangeboten, etwa in Zusammenarbeit mit einem lokalen Pflegedienst. So schaffen sie ein besonderes Pflegesetting, das den Menschen eine emotional und sozial ansprechende sowie geistig und körperlich aktivierende Umgebung bietet: durch die familiäre Anbindung, die im Hofleben anfallenden kleineren oder größeren Aufgaben sowie auch durch den Kontakt zu den Tieren auf dem Bauernhof.
Strategien für eine innovationsfreundliche Pflegepolitik
Die Praxisbeispiele der Studie zeigen, dass kein Mangel an innovativen Ideen besteht und diese durchaus auch praktikabel und erfolgreich sind. Allerdings fehlen nachhaltige Finanzierungslösungen, da sich sozialinnovative Praktiken in den bestehenden Finanzierungsstrukturen der gesetzlichen Pflegeversicherung häufig nicht oder nur schwer abbilden lassen.
Um soziale Innovationen in der Pflege zu stärken und in der Breite nachhaltig zu etablieren, braucht es eine innovationsfreundliche Pflegepolitik. Diesbezüglich hat das Projekt in einem Fokuspapier zur aktuellen Studie drei Handlungsempfehlungen formuliert: verstärkte und niedrigschwellige Innovationsförderung, nachhaltige Finanzierungslösungen in den bestehenden Regelstrukturen und eine Stärkung der Rolle der Kommunen.
Auf Bundesebene könnte, ergänzend zu dem bereits bestehenden Innovationsfonds für die allgemeine Gesundheitsversorgung, ein Pflege-Innovationsfonds für den Bereich der Langzeitpflege eingerichtet werden. Wichtig wären dabei ein niedrigschwelliges Antragsverfahren sowie Konzepte für den Transfer innovativer Versorgungsformen in die Regelstrukturen nach Auslaufen der Förderphase. Auch wären Förderprogramme auf Landesebene denkbar. Dabei könnten nach dem Vorbild von Niedersachsen unterstützende Stellen für Soziale Innovation eingerichtet werden, die als Schnittstelle zwischen Praxis und Politik fungieren.
Darüber hinaus sollte im Rahmen der bestehenden Regelstrukturen mehr Raum für innovative Konzepte geschaffen werden. So sollten etwa Ansätze der Quartierspflege als zukunftweisende Pflegemodelle stärker anerkannt und die Finanzierungsmöglichkeiten erweitert werden, so dass eine gelingende, nachhaltige Verzahnung von pflegerischer Versorgung, Wohnsituation und sozialem Umfeld grundsätzlich erleichtert wird. Außerdem wäre die praktikablere Umsetzung der Zeitvergütung mit angemessenen Stundensätzen als ergänzende Alternative zu festgelegten Leistungskomplexen eine wichtige Voraussetzung, um Person-zentrierte und ressourcenorientierte Pflegemodelle und ein darauf basierendes Case-Management zu fördern.
Schließlich erscheint die Stärkung der Rolle der Kommunen als vielversprechender Weg, denn bei ihnen laufen viele Fäden zusammen. Sie haben das Potenzial, die verschiedenen Stränge von der lokalen Versorgungsinfrastruktur über das Angebot und die Gestaltung von Wohnraum, über Antrags- und Beratungsprozesse für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bis hin zu lokalen Angeboten der Freizeitgestaltung und Gesundheitsförderung zusammenzubringen. Für diese Koordinierungsfunktion müsste innerhalb der Kommunalverwaltung entsprechend Personal eingesetzt werden. Um dem Gestaltungspotenzial der Kommunen zur Entfaltung zu verhelfen, könnten diesen außerdem entsprechend der Anzahl und Einstufung ihrer pflegebedürftigen Bürger:innen Mittel aus der Pflegeversicherung zugewiesen werden. Hierfür hat die Bertelsmann Stiftung bereits vor einigen Jahren ein Konzept entwickelt: Das Regionale Pflegebudget. Weiterführende Empfehlungen finden sich im Positionspapier zur Zukunft der professionellen Pflege der Stiftungsallianz aus Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung und Stiftung Münch.
Weitere Infos unter: www.bertelsmann-stiftung.de/pflegeinnovation
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