Mein Vater ist in den 90er-Jahren als junger Erwachsener ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland gekommen. Er musste mehrere Jobs gleichzeitig ausüben, um seine Familie in der Heimat im Kriegsgebiet sowie seine wachsende Familie in Stuttgart finanziell zu unterstützen. Diese Erfahrung lehrte ihn, dass es seine Kinder einmal besser haben sollten – und er lehrte mir, was es heißt, ehrgeizig für seine Ziele zu arbeiten.
Doch anstatt mich von diesen Umständen entmutigen zu lassen, lernte ich früh, kreativ zu sein und nach Lösungen zu suchen. Um mein Taschengeld aufzubessern, verkaufte ich in der 1. Klasse Basteleien, Zeichnungen und Pokémon- Karten auf dem Schulhof. Mit 12 Jahren trug ich wöchentlich Zeitungen für unseren gesamten Stadtbezirk aus. Mit 15 gab ich regelmäßig Nachhilfe und mit 16 war ich zusätzlich zehn Stunden wöchentlich in der Gastronomie tätig.
In meinem letzten Jahr vom Abitur arbeitete ich neben meinem 450-Euro-Job noch 8-Stunden-Schichten in der Industrie, während meine Klassenkamerad:innen das Wochenende genießen konnten. Hart arbeiten war für mich keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Doch es lehrte mich, das selbst verdiente Geld besser zu schätzen.
Not macht erfinderisch und schafft Macher
Andere Eltern schlugen ihren Kindern vor, zum Studieren an die besten Universitäten in andere Städte oder gar ins Ausland zu gehen – als wäre es selbstverständlich. Meine Eltern hingegen empfahlen mir, zu Hause in Stuttgart an die Uni zu gehen, da die Miete sonst zu teuer gewesen wäre. Letztlich habe ich sie überzeugen können, an das KIT in Karlsruhe zu gehen, da es ein günstiges Bahnticket gab. So pendelte ich jeden Tag drei Stunden für mein Wirtschaftsingenieurstudium von Stuttgart nach Karlsruhe, bis ich im vierten Semester endlich genug Geld zusammen hatte, um auszuziehen.
Ich werfe meinen Eltern ihre Situation und dementsprechend ihre (für mich als Kind frustrierenden) Ratschläge nicht vor. Sie waren immer sehr pragmatisch und haben mit ihren Ressourcen und ihrer Kreativität oft das Beste aus der Situation für mich und meine jüngeren Geschwister rausgeholt. Not macht erfinderisch. Doch sie gönnt uns keine Zeit, alles genau zu durchdenken, lange untätig zu bleiben und nur zu planen. So lernte ich, schnell Entscheidungen zu treffen und Pläne in die Tat umzusetzen.
Mein „besonderer“ Name Raji
Finanzielle Herausforderungen waren nicht die einzigen Steine, die mir in den Weg gelegt wurden. Schon seit dem Kindergarten wurde ich wegen meines in Deutschland unüblichen Namens gehänselt. Als Kind mit Migrationshintergrund fühlte ich mich oft unterschätzt und in eine Schublade gesteckt. Obwohl ich – laut meinen Eltern – ein neugieriges, intelligentes und wissbegieriges Kind war, bekam ich in meiner mehrheitlich deutschen Klasse immer den Stempel des „bildungs- und einkommensschwachen Ausländers“.
Da ich zu Hause mit meinen Eltern Arabisch sprach, waren meine Sprachkenntnisse in der Schule nicht so ausgeprägt wie die meiner Mitschüler. Hinzu kommt, dass man die arabische Sprache von rechts nach links schreibt und somit mein Schreibstil anders war. Als mein Mathelehrer sah, dass die Art, wie ich Zahlen schreibe, anders war, holte er mich nach vorne an die Tafel. Dort demütigte er mich vor der gesamten Klasse. Er sagte mir, ich schriebe alles falsch, korrigierte und kritisierte mich mehrfach. Und dass, obwohl die Zahl am Ende so aussah, wie sie auszusehen hatte.
Die Extrameile gehen
Auch in anderen Dingen hatten meine privilegierteren Mitschüler:innen durch ihre Voraussetzungen und ihr Elternhaus oft die Nase vorn – oder zumindest einen kürzeren Weg. In Eigenregie musste ich mir meinen Wortschatz sowie Wissen über Politik und Wirtschaft diszipliniert erarbeiten. Ich bin immer gerne zu meinem deutschen Freund nach Hause gegangen, um mich mit seinen Eltern über diverse Themen auszutauschen. So konnte ich viele Dinge lernen, die zu Hause nicht besprochen wurden oder keine Rolle spielten, da man mit anderen Problemen konfrontiert war.
Ich habe als Kind meine soziale Herkunft meist als Nachteil gesehen, doch im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass ich mit dem richtigen Mindset daraus eine Superpower entwickeln könnte. Um am Tisch mitreden zu können oder auf Augenhöhe begegnet zu werden, musste ich immer die Extrameile gehen: Ein eloquenter Redner werden, damit mir Menschen zuhören; breites Allgemeinwissen aufbauen, damit ich mitsprechen kann; empathisch sein, um Menschen zu verstehen und verstanden zu werden; das Verkaufen und Präsentieren lernen, um mich nicht abstempeln zu lassen und Menschen überzeugen und mitziehen zu können. Das alles ist meine Superpower.
Die Formel mit „harter Arbeit allein zum Erfolg” ging nicht auf
Später im Studium und im Beruf wurden Vorurteile gegenüber meiner Herkunft, meines sozialen Status und meines Namens noch spürbarer. Mein Vater war weder ein angesehener Manager in einem Konzern, noch kannte er ehemalige Studienfreunde oder Ex-Kollegen, die in anderen großen Konzernen arbeiteten.
Das Fehlen eines etablierten Netzwerks war eine weitere Hürde, die ich überwinden musste. Dies zwang mich früh dazu, meinen Wert und meine Fähigkeiten zu erkennen und meinen eigenen Weg zu gehen. Die Formel zum Erfolg enthält nämlich nicht nur den Faktor „harte Arbeit”, sondern auch ein starkes Netzwerk. Durch mein diverses Netzwerk, welches ich mir selbst aufbaute, konnte ich Mitarbeiter:innen, Investor:innen, Partner:innen, Freund:innen und Mentor:innen finden.
Chancen nutzen
Statt mich entmutigen zu lassen, trieb mich der Wunsch an, meine persönlichen Ziele für meinen Erfolg zu definieren. Während meines Studiums stieß ich auf die Pioniergarage, eine Hochschulgruppe, die sich mit dem Thema Entrepreneurship auseinandersetzt und Gleichgesinnte zusammenbringt. Ich habe mich intensiv mit den Herausforderungen einer Gründung auseinandergesetzt und war von dem Gedanken fasziniert, meine Ideen in die Realität umzusetzen.
Zwischen Nebenjobs und dem Studierendenalltag begann ich mit Kommilitonen, Ideen in die Tat umzusetzen und erste Erfahrungen in der Start-up-Welt zu sammeln. Heute sind meine ehemalige Studienkollegin Anna Loerzer und ich Mitgründer und Geschäftsführer des Startups Lemontaps, einer B2B-Plattform für digitale Visitenkarten und Lead-Generation mit weltweit Tausenden von Firmennutzer:innen.
Warum habe ich immer alles auf eine Karte gesetzt?
Die Idee, mein eigenes Unternehmen zu gründen, entstand aus dem starken Wunsch heraus, meine Visionen zu verwirklichen und einen positiven Einfluss auf die Welt zu haben. Inspiriert von der Erziehung meiner Eltern zur Selbstständigkeit, kombiniert mit dem Vertrauen in meine Visionen und Fähigkeiten, habe ich immer alles auf eine Karte gesetzt – ich hatte keine zweiten Chancen: Ich wollte etwas Eigenes schaffen, meine Kreativität ausleben und meine Zukunft selbst in der Hand haben. Ich wollte nicht in vorgegebenen Strukturen leben, sondern meinen eigenen Weg gehen und Dinge besser machen.
Mir ist es wichtig, aufzuzeigen, dass Erfolg auch möglich ist, wenn man aus einkommensschwachen Verhältnissen kommt. Die Herausforderungen meiner Kindheit haben mich gelehrt, flexibel und pragmatisch zu sein, Menschen empathisch zu begegnen. Diese Learnings sind heute wichtige Bestandteile meines Führungsstils und helfen mir dabei, mein Unternehmen erfolgreich aufzubauen.
Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mir und meinen Geschwistern die Möglichkeit und eine Grundlage gegeben haben, um uns zu entwickeln und Chancen zu nutzen. Viele Menschen vergessen oder schätzen es nicht genug, dass man in Deutschland sicher leben kann, so Vieles gut funktioniert, man versichert ist und die Bildung kostenlos ist. Und nicht zu vergessen der deutsche Pass, mit dem man nahezu überall hin reisen kann, ganz im Gegensatz zu den Herkunftsländern einiger Migrant:innen.
Mein Lebensweg mag von vielen Herausforderungen geprägt gewesen sein, aber er hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ein Mensch, der den Mut hat, alles auf eine Karte zu setzen. Der unbeugsame Glaube an meine Visionen und meine Fähigkeiten treibt mich bis heute an, neue Wege zu gehen und vor keinem Problem, das auch noch so groß sein mag, zurückzuschrecken. Als Gründer des Startups Lemontaps möchte ich nicht nur erfolgreich sein, sondern auch anderen Menschen zeigen, dass Träume verwirklicht werden können, wenn man hart (an sich selbst) arbeitet, an sich selbst glaubt und das richtige Netzwerk hat.
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