Die prekäre Lage der deutschen Wirtschaft nach Jahren der Stagnation und externen Shocks erfordert eine tiefere Reflektion über das deutsche Geschäftsmodell. Eingeübte Reflexe sind nun fehl am Platz. Die jüngste Neuauflage der Debatte Ordnungspolitik vs. Industriepolitik greift zu kurz: Ob sich der Aufschwung allein über verbesserte Rahmenbedingungen bei Steuern, Bürokratie und Energie organisieren ließe oder ob es eine Anheizung der Binnennachfrage und staatliche Industriepolitik bräuchte.
Lieferkettenprobleme während der Covid-19 Pandemie, die Energiekrise infolge der russischen Invasion der Ukraine und Anpassungskosten als Resultat sich zuspitzender internationaler Handelskonflikte sollten weniger als Gründe für die strauchelnde Volkswirtschaft verstanden werden, sondern mehr als Indizien eines tiefer liegenden Problems: Das deutsche Wohlstandsmodell fällt mehr und mehr aus der Zeit.
Technologieführerschaft statt Globalisierungsvorteile
Während das deutsche Wohlstandsmodell in weiten Teilen auf Globalisierungsvorteilen und internationalen Lieferketten sowie Sicherheitsgarantien beruht, setzen andere Staaten auf Innovationsoffensiven und Wachstum, das von Spitzentechnologie getrieben wird. Dies gilt insbesondere im Digital- sowie im Dual Use Bereich.
Es sind daraus erwachsende technologische Fähigkeiten, die diese Staaten in die Lage versetzen, kritische Positionen in Wertschöpfungsnetzwerken zu besetzen. Technologieführerschaft ist dabei die Triebfeder für Wettbewerbsfähigkeit sowie der Resilienzanker in geoökonomischen Sturmlagen.
Prominente Studien und Stimmen – nicht zuletzt Mario Draghi – betonen, dass Deutschlands und Europas Wettbewerbsfähigkeits- und Produktivitätsdefizit im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften durch zu langes Festhalten an inkrementellen Innovationen in weniger produktiven Industriebereichen zu erklären ist (Stichwort Mid-Tech-Falle). Steigenden öffentlichen und privaten FuE-Budgets auf der Inputseite stehen zu wenige Produktivitätssteigerungen, Sprunginnovationen und neue Technologie-Champions gegenüber.
Wie gehen führende Volkswirtschaften vor?
Deutschland muss (sich) neu erfinden. In unserer Studie haben wir deshalb analysiert, wie in Innovationsrankings führende Volkswirtschaften vorgehen und welche Hebel in Gang zu setzen wären, um die Innovationsfähigkeit Deutschlands nachhaltig zu stärken.
Dass andere Volkswirtschaften mehr Innovationskraft aufbringen, kann nicht allein durch Unterschiede im prozentualen FuE-Mitteleinsatz bemessen am BIP erklärt werden. All diese Staaten haben auf höchster politischer Ebene im Austausch mit Wirtschaft und Wissenschaft ein Portfolio an Spitzen- und Schlüsseltechnologien definiert und ihre Förderlandschaft auf dieses Portfolio prioritär ausgerichtet.
Im Folgenden wird dargelegt, wie ein Technologie-Portfolioprozess in Deutschland Stakeholder übergreifend organisiert und durch instrumentelle Enabler wie Advance Market Commitments, systematische Konsortialbildung und Reallabore effektiv umgesetzt werden könnte.
Die aus dem Prozess resultierende Erwartungssicherheit motiviert Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft zum Schulterschluss. Privates Kapital wird mobilisiert und in Spitzentechnologien und industrielle Schlüsselbereiche kanalisiert. Im Ergebnis kulminiert die Fokussierung in dem strategischen Aufbau von selbsttragenden und international wettbewerbsfähigen Innovationsökosystemen.
Die Basis: Strategischer Technologie-Portfolioprozess, technologiespezifische Roadmaps und Kompetenzmonitoring
Technologiemachtblöcke wie die USA und China, aber auch kleinere Volkswirtschaften wie Südkorea, die in Innovationsrankings nach vorne drängen, leben den Weg der innovationspolitischen Fokussierung und des technologiegetriebenen Wachstums schon länger vor.
Der volkswirtschaftliche und geopolitische Mehrwert dieser Spezialisierung ist bereits sichtbar. Ein Beispiel: Die Leading Edge Halbleiter- und KI-Wertschöpfungskette wird US-amerikanisch (Chip-Design und KI-Anwendungen) und südostasiatisch (Chipfertigung und alternative Basismodellangebote) weitgehend dominiert.
Dieser Prozess muss von höchster politischer Ebene initiiert werden und dabei kritische Stimmen aus Verwaltung, Wirtschaft und Forschungsorganisationen proaktiv einbinden und zur konstruktiven Mitwirkung motivieren. Inklusiv und transparent angelegt, sollte der Prozess allerdings keine Veto-Positionen vorhalten.
Ziel des Prozesses muss eine verbindliche und umsetzungsorientierte Einigung darauf sein, Ressourcen auf die vielversprechendsten Technologien und Ökosysteme zu konzentrieren. Dabei gilt es, Interdependenzen und Synergien zwischen Technologien im Lichte bestehender Stärken in der deutschen Innovationslandschaft im internationalen Vergleich auszuloten. Die auskömmliche Finanzierung der Grundlagenforschung ist davon ausgenommen.
Auf der Basis dieses Portfolios sollten, zweitens, technologiespezifische Roadmaps erarbeitet werden, die den jeweiligen Ökosystemen klare Perspektiven eröffnen und einen konzentrierten organisationsübergreifenden Mitteleinsatz ermöglichen. Eine institutionelle Feedbackschleife zwischen Politik und Innovationsakteuren könnte die Umsetzung der Roadmap zudem zu einem lernenden Prozess gestalten und insbesondere auch passgenaue und zeitnahe regulatorische oder bürokratische Anpassungen ermöglichen.
Drittens sollte der Technologie-Portfolioprozess durch ein systematisches sowie Wissenschaft und Wirtschaft einbindendes Kompetenzmonitoring über das Portfolio hinweg begleitet werden. Fehlallokationen der Mittel, im Prozess auftauchende Synergien und Spillover-Effekte sowie Veränderungen im geoökonomischen oder gesellschaftlichen Kontext würden somit frühzeitig in den Portfolioprozess erkannt und aufgegriffen werden.
Die Methode: Heimische Ökosysteme statt einzelne Player stärken
Es ist offen und ehrlich zu diskutieren, inwiefern die bisherige Arbeitsteilung zwischen öffentlicher Hand und Innovationsakteuren sowie der bestehende Instrumentenkasten geeignet oder ausreichend sind, um dem allseits beschworenen Ziel der Technologieführerschaft Deutschlands tatsächlich näher zu kommen. „Fear of missing out“ ist keine gewinnende Innovationsstrategie, die Ökosysteme mobilisiert.
Die Wettbewerbsfähigkeit über Regulierung statt marktverändernder Angebote zu erhalten sowie den Vorteil allein über die Senkung von Produktionskosten und inkrementeller Optimierung technologischer Ansätze und Geschäftsmodelle zu suchen, zeigt ebenfalls keine nachhaltigen Erfolge.
Insbesondere Großunternehmen haben den Wert heimischer Ökosysteme als Innovationsquelle und vor allem die Chance unterschätzt, den Wettbewerbsvorteil in der Technologietiefe zu suchen und Kräfte zu bündeln. Im Kollektiv sollten die Erfolgsaussichten steigen, sich im internationalen Wettbewerb durch die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und disruptiver Technologieansätze zu beweisen oder gar vor die Lage zu kommen.
Öffentliche Spitzenförderung muss immer den Ausgleich mit der Breitenförderung suchen. Ressortprogramme standen häufig nebeneinander, anstatt aufeinander einzuzahlen. Das verstärkt eine innovationspolitische Beständigkeits- statt Aufbruchsagenda. Begrüßenswerte Neuerungen wie beispielsweise die Gründung der SPRIN-D wurden der Innovationslandschaft hinzugefügt, aber nie als Gelegenheitsfenster genutzt, um die Innovationslandschaft neu zu sortieren und gegebenenfalls Instrumente auszumustern.
In der Konsequenz verfügt Deutschland zwar über hervorragende Technologie-Hubs beispielsweise in den Bereichen KI, Quantentechnologie und Biotechnologie, welche auf Spitzenforschung und aussichtsreichen Start-ups basieren. Diesen Hubs fehlen allerdings für die internationale Strahlkraft zu oft die Kund- und Partnerschaft sowohl der öffentlichen Hand als auch etablierter Player, um aus Deutschland oder Europa heraus zu skalieren.
Der öffentliche Mitteleinsatz muss zukünftig hinsichtlich Schlüsseltechnologien nicht nur stärker entlang eines Portfolios fokussieren. Die Förderarchitektur und -instrumente müssen in ihrem Einsatz auch stärker danach differenzieren wo tatsächlich ein Marktversagen vorliegt und es einen staatlichen Push braucht; wo es zwar Interessen für gemeinsame Innovationstätigkeiten gibt, die aber ohne koordinative Unterstützung nicht zueinander finden; oder wo Regulatorik und Bürokratie Innovationsakteure schlichtweg daran hemmen, voranzugehen.
Technologietransfer wider dem Marktversagen
Rufe nach einer heimischen Produktion, beispielsweise von Antibiotika, grünem Stahl und Raumfahrtsystemen, spiegeln den öffentlichen Bedarf nach innovativen Lösungsansätzen- Dieser kann allerdings nicht immer oder nicht effizient durch Marktangebote gedeckt werden. Das erforderliche unternehmerische Risiko wird in diesen Fällen häufig als zu hoch eingeschätzt.
Bislang nutzt die öffentliche Hand Subventionen oder einzelne Projektförderlinien als Anreizstrukturen für technische Entwicklungen. Der Nachteil dieser Herangehensweise ist, dass einzelne Unternehmungen gefördert werden anstatt der Wettbewerb unter Unternehmungen. Man läuft in Gefahr, dass man technologisch auf das „falsche Pferd“ setzt und Misserfolge erntet.
Advance Market Commitments und eine wettbewerbsorientierte Beschaffung
Advance Market Commitments (AMCs) hingegen entfesseln Marktdynamiken und steigern Entwicklungsinvestitionen. Sie tun das, indem sie das unternehmerische Risiko über eine garantierte Mindestabnahme senken, private Investitionen mobilisieren und die öffentliche Hand von leistungsstarken Problemlösungen profitieren lassen, deren Abnahme an eine tatsächlich erfolgreiche Produktentwicklung und -zulassung gekoppelt ist.
AMCs wurden als Instrument bereits erfolgreich im Gesundheitsbereich genutzt, beispielsweise im Fall des GAVI-Pneumokokkenimpfung-AMC. Infektionskrankheiten wie Lungenentzündungen gehören nach wie vor zu den häufigsten Todesursachen für Kinder. Ohne das Pneumokokken AMC hätten die 60 teilnahmeberechtigten Staaten nur einen verspäteten und teuren Zugang zu der Schutzimpfung, die schätzungsweise 17 Millionen Kindern in den vergangenen 25 Jahren das Leben gerettet hat. Auch im Umweltbereich werden AMCs als wirksame Anreizstruktur zur Entwicklung von Carbon Removal Lösungen und neuer Kreislaufsysteme diskutiert.
Technologietransfer wider Kooperationsdefiziten
Deutschland und Europa fehlen in verschiedenen Schlüsseltechnologiebereichen, beispielsweise der Digitalisierung, Hyperscaler nach US-amerikanischen oder chinesischem Vorbild: Sie bringen neue Technologien voran und führen sie in Märkte ein.
Dieser Transferleistung der Hyperscaler stehen demokratietheoretische Kosten der ausufernden Macht dieser Plattformanbieter gegenüber. Der europäische Weg müsste in der Kräftebündelung kleiner und mittlerer Innovatoren liegen, um Skalierungskräfte zu entwickeln und vor allem auch um Spillover-Effekte durch gemeinsame Innovationstätigkeiten zu heben.
Konsortialbildung und „Investment Zones“
Deutsche Unternehmen verfolgen laut einer OECD-Studie allerdings kaum gemeinschaftliche Innovationstätigkeiten. Mangelnde Kooperationserfahrung/-kultur, Sorgen um IP-Abfluss, kartellrechtliche Bedenken sowie Transaktionskosten in Form des Bürokratie-Overheads erschweren maßgeblich die Konsortialbildung und -aufrechterhaltung.
Rechtssicherheit bezüglich Spielräumen im Wettbewerbsrecht, flexiblere IP-Vorgaben und steuerliche Anreizstrukturen für gemeinschaftliche Innovationstätigkeiten könnten die zur Skalierung notwendige Kooperationskultur unter Unternehmen fördern.
Anreizstrukturen für vertikale gemeinschaftliche Innovationstätigkeiten zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen und Unternehmen und den Aufbau kritischer Massen könnten sich an den 2022 etablierten britischen Investment Zones orientieren. Über eine Kombination aus Steuererleichterungen, Planungsbeschleunigung und Infrastrukturförderung werden Talente, Investoren und Unternehmen zur Technologiespezialisierung an spezifischen Standorten motiviert und an akademische Exzellenz angekoppelt.
Technologietransfer durch Entfesselung bestehender Fähigkeiten
In manchen Fällen scheitert der Technologietransfer und die Skalierung nicht am Fehlen technologischer Ansätze oder unmittelbar an Finanzierungsengpässen. Stattdessen können Innovationsakteure ihre Technologie nicht über das Demonstrationsniveau hinaus voranbringen und Investoren schrecken vor dem notwendigen Investments zurück, weil der rechtliche Rahmen gegenüber neuesten Technologien veraltet oder die Rechtsauslegung uneindeutig ist.
Reallabore und eine lernende Regulatorik
International haben sich regulatorische Reallabore im innovationspolitischen Instrumentenkasten etabliert. Obwohl auch sie kein Allheilmittel für die bestehende Regelungsdichte, Bürokratielasten und Überforderung von Verwaltungsstrukturen sind. In Form von Experimentierklauseln werden Innovatoren regulatorische Freiheiten und Spielräume zugestanden, wobei die öffentliche Hand über Evaluationsverfahren eng über mögliche Negativeffekte des flexibleren Rechtsrahmens im Loop gehalten und die Schutzpflicht des Staates aufrechterhalten wird.
Innovationsakteure werden durch Reallabore in die Lage versetzt, technologisch voranzugehen und damit neue Märkte und Anwendungsfelder zu erkunden. Die öffentliche Hand profitiert von einer lernenden Regulatorik, der praxisnahen Anwendung und Fortentwicklung von Regeln und Verwaltungspraktiken.
Aufbauend auf einer Initiative der letzten Legislatur, die nicht mehr zur Abstimmung im Parlament kam, hat das aktuelle Bundeskabinett einen Entwurf für ein Reallabore-Gesetz beschlossen. Die flächendeckende Möglichkeit, Reallabore einzusetzen, wäre äußerst wünschenswert.
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