Herr Kabasci, Herr Nühlen, was zeichnet in Ihren Augen eine Circular Economy aus?
Stephan Kabasci: Dazu muss man sich zunächst darüber klar sein, wie unser aktueller Wirtschaftsansatz aussieht. Der ist nämlich zum Großteil linear: Die meisten Produkte werden gestaltet und entwickelt, ohne an die Phase nach der ersten Nutzung zu denken. Wie der Wert der für die Herstellung des Produkts verwendeten Rohstoffe und Materialien bestmöglich erhalten bleibt oder wie diese Rohstoffe und Materialien wieder für neue Produkte genutzt werden können – darauf sind in der Regel weder Geschäftsmodelle noch Produkte ausgelegt.
Jochen Nühlen: Die Circular Economy dagegen verfolgt einen anderen, einen zirkulären Ansatz: Produkte und Verfahren werden ganzheitlich gedacht – und zwar mit der Zielsetzung, die Bedürfnisse der Menschen genau so umfassend zu befriedigen wie in der linearen Wirtschaft, aber mit geringerem absoluten Ressourcen- und Energieeinsatz. Das geht im Idealfall einher mit der Nutzung erneuerbarer Quellen für Rohstoffe und Energie sowie der Reduktion von Emissionen.
In der Produktion werden beispielsweise Abfälle und Ausschüsse minimiert und erneuerbare Energien eingesetzt oder auch Prozesse aufgesetzt, die nicht die Neuproduktion, sondern die Aufbereitung bereits genutzter Maschinen zum Ziel haben. Das erfordert ein Umdenken sowohl im Design, bei Verfahrenstechnik und eingesetzten Ressourcen als auch bei den dazugehörigen Geschäftsmodellen. Der Blick auf das eigene Unternehmen reicht dabei häufig nicht aus.
Kabasci: Als gute Orientierungshilfe gelten mittlerweile die R-Strategien, die die verschiedenen Bausteine und Möglichkeiten auf dem Weg hin zu einer Circular Economy konkretisieren. Sie betrachten ein Produkt oder einen Rohstoff über den gesamten Lebenslauf und adressieren dabei verschiedene Maßnahmen, die ein zirkuläres Wirtschaften ermöglichen könnten. Besonders großen Einfluss auf Zirkularität und Ressourcenverbräuche haben die ersten R-Strategien Refuse, Rethink und Reduce beim Design von Produkten und Geschäftsmodellen.
Wie weit ist Deutschland auf dem Weg Richtung Circular Economy?
Kabasci: Das lässt sich beispielsweise am Indikator „Circular Material Use Rate“ von eurostat sehen. Dieser beschreibt, welcher Anteil der eingesetzten Rohmaterialien in einer nationalen Wirtschaft aus rezyklierten Abfallstoffen besteht. Demnach liegt Deutschland mit einem Wert von 13 Prozent für das Jahr 2022 im oberen Mittelfeld der EU, deren Wert bei 11,5 Prozent liegt.
Das sieht auf den ersten Blick gut aus, ist aber deutlich entfernt von den Spitzenwerten: Niederlande mit 27,5 Prozent, Belgien mit 22,3 Prozent und Frankreich mit 19,3 Prozent. Allerdings betrachtet dieser Indikator nur einen Aspekt dessen, wie zirkulär in Unternehmen und Gesellschaft gedacht und gehandelt wird. Schließlich ist das Recycling nur ein Aspekt der Circular Economy.
Nühlen: Das stimmt! Deutschland hatte lange den Ruf eines „Recycling Weltmeisters“ und auch unser Kreislaufwirtschaftsgesetz zur Schonung natürlicher Ressourcen wird in der Welt vielbeachtet. Aber diesen Vorsprung haben wir aus meiner Sicht eingebüßt und uns zu lange auf eine R-Strategie fokussiert. Es ist für eine Circular Economy sehr wesentlich, auf das Lebensende eines Produkts zu schauen und dort technologische Lösungen anzubieten.
Diese Stärke, die wir in Deutschland in dem Bereich haben, muss aus meiner Sicht als Basis verstanden und Stück für Stück an sinnvollen Stellen um weitere R-Strategien erweitert werden. Es liegt großes Potential darin, diese sehr gute Recyclinginfrastruktur und unsere Innovationskraft in diesem Sektor als Fundament für zirkuläres Wirtschaften zu nutzen. Wir sollten daher gleichzeitig Recyclingtechnologien vorantreiben, aber diese auch konsequent mit anderen R-Strategien flankieren. Meine Einschätzung lautet daher: Deutschland hat gerade erst begonnen, den Weg zur Circular Economy zu beschreiten.
Welche Branchen sind bislang am besten unterwegs?
Kabasci: Das ist so gar nicht pauschal zu beantworten. Man muss genauer hinschauen, an welchen Stellen in einer Wertschöpfungskette bereits zirkuläre Lösungen und Strukturen etabliert und auch von der Kundschaft akzeptiert sind. Im Lebensmittelhandel finden sich beispielsweise sehr effektive Mehrwegsysteme für Obst- und Gemüsetransporte. Im Vergleich zu Einweg-Pappkartons sind sie deutlich umweltfreundlicher und auch wirtschaftlicher, wie wir in einer Studie gezeigt haben.
Im Maschinenbau gibt es einige Unternehmen, die aktiv an ihren Geschäftsmodellen und Strukturen arbeiten, um etwa Remanufacturing-Lösungen oder Leasingmodelle zu implementieren. Auch in Chemie- und Bauindustrie wird in den vergangenen Jahren viel über Kreisläufe nachgedacht.
Was sind die größten Herausforderungen?
Kabasci: Die Circular Economy hat viele Facetten, entsprechend vielfältig sind die Herausforderungen, aber auch Hebel. Zudem hat jedes Unternehmen unterschiedliche Ausgangslagen und Marktsituationen, sodass Verallgemeinerungen nicht weiterhelfen. In meinen Augen ist aber das größte Missverständnis: Sehr viele Menschen in Deutschland verstehen unter Circular Economy im Wesentlichen das Rezyklieren von Abfällen und entscheiden daher zu früh, dass das Thema keine Relevanz für sie und ihr Unternehmen hat.
Dabei ist das Recycling nur ein Baustein, es gibt noch viel mehr:
- die Vermeidung der Herstellung von Produkten durch das Anbieten von Services
- das gemeinsame Nutzen von Produkten, die sogenannte Sharing Economy
- das Vermindern von Material- und Energieeinsatz in der Produktion
- den Ersatz fossiler nicht-erneuerbarer Ressourcen durch Rezyklate oder nachhaltige biogene Rohstoffe
- das langlebige und modulare Gestalten von Produkten, die einfach zu reparieren sind
- die Gestaltung von Mehrwegsystemen im Verpackungsbereich
- den Aufbau weiterer produkt- oder materialspezifischer Recyclingsysteme, deren Produkte, qualitativ hochwertige Rezyklate, echte Alternativen zu Neuware bei der Produktion bieten
Nühlen: Egal, an welcher Stelle ein Unternehmen seiner Tätigkeit am Markt nachgeht, es bestehen prinzipiell Anknüpfungspunkte und Entwicklungsfelder zu einer Circular Economy. Es gilt dabei immer mit dem Unternehmen genau hinzuschauen, welche der R-Strategien die erfolgversprechendste ist.
Eine große Herausforderung, die in vielen Gesprächen mit der Industrie auf dem Weg in die Circular Economy an uns herangetragen wird, liegt in den globalen Waren- und Ressourcenströmen. Unabhängig von sonstigen Vor- und Nachteilen globalisierter Stoffströme: Die Wertschöpfungsketten sind teilweise so verzweigt, dass ein Unternehmen allein häufig nicht entscheiden kann, sich, seine Produkte und sein Geschäftsmodell zirkulär aufzustellen.
Da sind neben technologischen Voraussetzungen auch viel Kommunikation, Umdenken und Anpassungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette notwendig. Circular Economy ist eben ein Mannschaftsspiel: Sie erfordert den Willen und die Motivation aller Beteiligter und auch den politischen Rahmen! Wenn ein Baustein der Wertschöpfungskette nicht vom Mehrwert überzeugt ist, nicht richtig mitgenommen und abgeholt wird oder technologische Lösungen noch in den Kinderschuhen stecken, wird es häufig schwierig mit der tatsächlichen Umsetzung.
Klar ist, dass diese Transformation nicht immer von heute auf morgen geht, aber noch enormes Potential besteht. Häufig erleben wir in unseren Gesprächen und Projekten echte „Aha“-Erlebnisse in Bezug auf die Beitragsmöglichkeiten. Wie in jedem Transformationsprozess müssen auch regulatorische Hürden überwunden werden: Gesetze und Vorschriften müssen weiterentwickelt werden, um diese auf Kreisläufe ausgelegte Wirtschaft umfassend zu unterstützen und zu fördern und die Rahmenbedingungen zu schaffen.
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